04.12.2020 - PDF

Intensivmedizinische Priorisierung: Das Szenario einer Triage durch COVID-19

  • Die Menschen in Österreich sind sich relativ einig, dass die Kränkesten bei der Zuteilung von Intensivbetten präferiert werden sollen.
  • Eine Bevorzugung von Privatversicherten und von Menschen, die viele Steuern in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen, wird von fast allen Bevölkerungsgruppen abgelehnt.
  • Präferierte Behandlungen von Personen, die das Gesundheitssystem aufrechterhalten, und von Menschen mit Betreuungspflichten erhalten Zustimmung.

Von Thomas Resch

Prinzipien der Priorisierung

In der Corona-Krise stellt das Virus uns alle vor besondere Herausforderungen. Dass Triage eine Ausnahmesituation darstellt ist unbestritten. Dennoch muss sich eine Gesellschaft mit der unbequemen Frage auseinandersetzen, was zu tun wäre, wenn es so weit kommt. Die Wissenschaft, und insbesondere Medizin- und Bioethiker*innen, können uns Antworten oder zumindest Möglichkeiten aufzeigen.

Prinzipien zur Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen in einer Influenzapandemie setzen sich aus mehreren Ansätzen beziehungsweise Denkrichtungen zusammen. Eine dieser ethischen Richtungen bedient sich der Standpunkte der Effektivität und vor allem des Nutzens. Da es dabei um Menschenleben geht, ist der zu maximierende Nutzen entweder die Anzahl der geretteten Leben oder auch die Anzahl der geretteten Lebensjahre. Letzteres geht davon aus, dass Menschen mit höherer verbleibender Lebenserwartung priorisiert werden sollen. Diese gesundheitsökonomische Ansätze lassen sich schlussendlich schwer bewerten, sind doch die Langzeitfolgen einer COVID-19 Erkrankung heute nicht vollkommen bekannt. Ein weiterer ethischer Ansatz in einer pandemiegeschuldeten Triage zielt darauf ab, faire Bedingungen herzustellen oder zumindest unfaire Ergebnisse zu minimieren. Dabei geht es vor allem um die Frage der Reziprozität, also darum, eine Form direkter oder indirekter Gegenseitigkeit in der Gesellschaft zu erzeugen. So kann etwa Gesundheitspersonal, weil es sich wissentlich höherem Risiko aussetzt, bei der Behandlung bevorzugt werden. Drittens kann man Überlegungen anstellen, in einer Triage Chancengleichheit herzustellen. Dabei würden junge Menschen, die noch nicht die Chance hatten ein volles Leben zu führen, priorisiert werden, ebenso wie besonders Kranke, welche ansonsten mit höherer Wahrscheinlichkeit sterben würden. Auch muss man die Diskriminierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen und Minderheiten vermeiden. Die ethischen Prinzipien in einer Triage-Situation müssten schlussendlich auch angewendet werden, um als Leitfäden und Behandlungskriterien zu dienen, auch wenn sie moralische Dilemmata darstellen. In einer Triage kann man einer Priorisierung nicht entkommen.

Die Situation der Belegung von Intensivbetten durch COVID-19 Patient*innen in Österreich hat sich im Laufe des November 2020 verschärft (siehe Abbildung 1) mit 691  aktiven Fällen auf Intensivstationen und 535 freien Plätzen in eben diesen (Stand Mittag 03.12.2020).

Abbildung 1: Belegte Intensivbetten in Österreich, tatsächliche Zahlen und Prognose, Stand 02.12.2020 (Quel-le: Sozialministerium)

Generelle Zustimmung und soziodemographische Unterschiede

Um Unterschiede in den Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zu Priorisierungsentscheidungen zu erfassen, beleuchtet dieser Beitrag die Charakteristika Geschlecht, Alter, Parteipräferenz, Haushaltseinkommen und Bildungsniveau. Der Blog konzentriert sich auf diesen Aspekt, weil die Forschung zeigt, dass Menschen in ihren Einstellungen zur medizinischen Priorisierung durch Eigeninteresse und ihre jeweiligen demographischen Charakteristika beeinflusst werden.

Zunächst zeigt Abbildung 2 die durchschnittliche Zustimmungen zu neun Priorisierungskriterien der im Austrian Corona Panel Project in Mitte November 2020 Befragten. Zur Frage stand dabei eine allgemeine Triage unter Intensivpatient*innen, verursacht durch COVID-19. Die Behandlung von schwer Erkrankten ist dabei das am meisten präferierte Prinzip. Dieses ist gefolgt von der präferierten Behandlung von Gesundheitspersonal und von Menschen, die Kinder oder Familienmitglieder betreuen. Patient*innen mit den größten Heilungschancen sollen nach den Befragten mittelmäßig berücksichtigt werden. Österreichische Staatsbürger*innen und Junge zuerst zu behandeln wird eher abgelehnt. Am unbeliebtesten ist die präferierte Behandlung von Menschen, die viel Steuern in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen, die zufällige Behandlung und Privatversicherte zuerst zu behandeln.

Abbildung 2: Durchschnittliche Zustimmung (Quelle: ACPP), gewichtet, N= 1500-1300

An den Darstellungen der Behandlungskriterien geordnet nach demographischen Merkmalen (Abbildung 3) lassen sich mehrere Dinge ablesen. Zunächst steigt die Favorisierung von Behandlung nach Schwere der Erkrankung mit dem Alter an, während dasselbe Kriterium mit höherem Bildungsniveau abnimmt. Des Weiteren präferieren höher Gebildete und Menschen, die hohes Nettohaushaltseinkommen haben, die Behandlung von Menschen mit größeren Heilungschancen. Mehr Männer als Frauen wollen eine Behandlung für Österreicher*innen und für Gesundheitspersonal.

Abbildung 3 Durchschnittliche Zustimmung geordnet nach soziodemographischen Merkmalen (Quelle: ACPP), gewichtet, N= 1500-1300

Schlussendlich wird für diesen Beitrag der Zusammenhang zwischen den demographischen Variablen und den Behandlungskriterien in einer COVID-19 geschuldeten Triage für Intensivpatient*innen näher untersucht (siehe Anhang). Die Ergebnisse erhärten die eben ausgeführten Verhältnisse.

Zusätzlich sind Unterschiede des Präferierens von österreichische Staatsbürger*innen bemerkbar anhand von Parteipräferenz, also der hypothetischen Wahlentscheidung. Ein solches Behandlungskriterium wird stärker von FPÖ Wähler*innen bevorzugt, hingegen von NEOS, SPÖ und ganz besonders von GRÜN Wähler*innen abgelehnt.

Fazit  

In einigen Dingen sind sich die in Österreich lebenden Menschen relativ einig: Die Kränkesten sollen zuerst behandelt werden, gefolgt vom Gesundheitspersonal. Eine prioritäre Behandlung von Privatversicherten wird kaum gewünscht, ebensowenig wie die Bevorzugung von Personen die höhere Steuern zahlen, oder eine Priorisierung nach dem Zufallsprinzip. Bei der relativen Bedeutsamkeit der anderen Kriterien scheiden sich aber die Geister.

Die unbequeme Frage, die sich Entscheidungsträger stellen müssen, ist nach welchen Prinzipien die Priorisierung in Intensivstationen vorgenommen werden, sollte es zu einer Triage kommen. Es müssen schlussendlich auch Politiker*innen Leitlinien vorgeben nach denen sich Ärzt*innen im Fall des Falles verlässlich richten können. Dies sollte nur bedingt demokratisch entschieden werden, denn Mehrheitsprinzipien sind unter Umständen nicht die, welche die gewollten Effekte erzielen, weshalb unbedingt Expert*innen hinzugezogen werden sollten. Es muss also mit Bedacht abgewogen werden, wieviel Gewicht ethischen Prinzipien in der Theorie und demokratisch gewollten Kriterien in der Praxis gegeben werden.


Thomas Resch ist als Doktorand am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gerechtigkeitsforschung, Verteilungspräferenzen, Einstellungen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und international vergleichender Analyse von Wohlfahrtsstaaten.


Anhang

Gewichtete Regressionen (demographisch und politisch)

(1)

(2)

(3)

(4)

(5)

(6)

(7)

(8)

(9)

Abhängige Variablen

Grad der Erkrankung

Gesundheitspersonal zuerst

Betreuung Kinder/Familie

Heilungschancen

Öst. Staatsbürger*innen

Junge zuerst

Steuerbeitrag

Zufällige Behandlung

Privatversicherte

 

b/se

b/se

b/se

b/se

b/se

b/se

b/se

b/se

b/se

ISCED 1 (ohne Abschluss)

0.317

-0.395

0.000

-0.288

0.240

0.026

-0.079

0.822*

0.782*

 

(0.31)

(0.38)

(.)

(0.37)

(0.40)

(0.33)

(0.36)

(0.33)

(0.32)

ISCED 2 (Sek. I)

0.014

-0.127

0.348

-0.027

-0.123

-0.126

-0.148

0.057

0.041

 

(0.08)

(0.10)

(0.33)

(0.10)

(0.11)

(0.09)

(0.10)

(0.09)

(0.08)

ISCED 3 (Lehre etc)

Referenz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ISCED 4 (Sek. II)

-0.024

-0.012

0.223

0.012

-0.290*

-0.181

-0.062

-0.022

0.083

 

(0.11)

(0.13)

(0.35)

(0.13)

(0.15)

(0.12)

(0.13)

(0.12)

(0.11)

ISCED 5 (Tertiär)

-0.212*

0.143

0.206

-0.008

-0.516***

-0.030

-0.108

-0.027

0.153

 

(0.10)

(0.12)

(0.34)

(0.11)

(0.13)

(0.11)

(0.12)

(0.11)

(0.10)

Maennlich

Referenz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Weiblich

-0.063

-0.285***

-0.043

0.074

-0.293**

0.224**

0.003

-0.103

-0.120

 

(0.07)

(0.08)

(0.08)

(0.08)

(0.09)

(0.08)

(0.08)

(0.08)

(0.07)

jünger als 30

-0.270**

-0.381***

-0.212*

-0.156

0.151

0.141

0.506***

0.454***

0.492***

 

(0.09)

(0.11)

(0.10)

(0.11)

(0.12)

(0.10)

(0.11)

(0.10)

(0.09)

30-65

Referenz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

älter als 65

0.056

0.249*

-0.037

0.077

0.085

0.050

-0.051

0.011

0.019

 

(0.08)

(0.10)

(0.09)

(0.10)

(0.11)

(0.09)

(0.10)

(0.09)

(0.08)

Einkommen

-0.013

-0.025

-0.005

0.094**

-0.060

0.002

0.017

-0.094**

0.022

 

(0.03)

(0.03)

(0.03)

(0.03)

(0.04)

(0.03)

(0.03)

(0.03)

(0.03)

ÖVP

Referenz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

SPÖ

-0.147

-0.270*

-0.180

-0.251*

-0.362**

0.096

-0.168

0.052

-0.048

 

(0.09)

(0.12)

(0.11)

(0.11)

(0.13)

(0.11)

(0.11)

(0.11)

(0.10)

FPÖ

-0.195

0.005

-0.150

-0.036

0.705***

0.052

0.475***

0.156

0.205

 

(0.12)

(0.14)

(0.14)

(0.14)

(0.16)

(0.13)

(0.14)

(0.14)

(0.12)

NEOS

-0.226

0.002

-0.064

0.087

-0.568***

0.074

-0.185

-0.120

-0.150

 

(0.12)

(0.15)

(0.14)

(0.15)

(0.17)

(0.14)

(0.15)

(0.14)

(0.13)

GRÜNE

-0.111

-0.030

0.109

0.293*

-1.096***

0.235

-0.429**

-0.290*

-0.365**

 

(0.13)

(0.15)

(0.14)

(0.15)

(0.16)

(0.14)

(0.14)

(0.14)

(0.12)

Andere

-0.284*

-0.478**

-0.014

-0.245

-0.002

0.190

-0.213

-0.118

0.509***

 

(0.14)

(0.18)

(0.16)

(0.16)

(0.19)

(0.16)

(0.17)

(0.16)

(0.14)

Ung./NW

-0.127

-0.516***

-0.196

-0.533***

0.259

-0.077

-0.304*

-0.155

-0.055

 

(0.10)

(0.12)

(0.12)

(0.12)

(0.14)

(0.12)

(0.12)

(0.12)

(0.10)

constant

4.323***

3.965***

3.065***

2.986***

3.287***

2.465***

2.078***

2.260***

1.617***

 

(0.12)

(0.15)

(0.35)

(0.14)

(0.16)

(0.14)

(0.14)

(0.14)

(0.12)

R-sqr

0.033

0.071

0.022

0.065

0.166

0.021

0.063

0.058

0.076

N

929.0

920.0

911.0

892.0

920.0

892.0

931.0

900.0

940.0

* p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001