13.10.2020 – PDF

Normkonformität in der Corona-Krise: Die Einhaltung des Mindestabstands und die Verwendung eines Mund-Nasen-Schutzes im Verlauf der Pandemie

  • Abstand Halten und Mund-Nasenschutz Verwenden sind die zwei zentralen Stützen der Eindämmung der Pandemie.
  • Im Gegensatz zu vielen anderen Maßnahmen finden diese Maßnahmen breite Unterstützung in der Bevölkerung, gleichzeitig meint eine große Mehrheit der Bevölkerung, dass die Maßnahmen nicht mehr effektiv seien.
  • Bei anderen Menschen wird eine geringere Bereitschaft zur Einhaltung der Regeln gesehen als im eigenen Verhalten.
  • Die Abstandsregel wird sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung konsequenter eingehalten als die Nutzung des Mund-Nasen-Schutzes.

Von Bernhard Kittel und Fabian Kalleitner

In Anbetracht des gegenwärtigen Konsenses, dass die Übertragung des SARS-CoV-2 Virus primär über die Atemwege stattfindet (Chu et al 2020; Prather et al 2020; Alwan et al 2020), ist die „AHA-Regel“ ein zentrales Element der Strategie vieler Regierungen zur Eindämmung der Pandemie.[1] „AHA“ steht dabei für „Abstandhalten, Hygiene-Maßnahmen beachten, Alltagsmaske tragen“. Sowohl das Tragen der „Alltagsmaske“ – in Österreich als Mund-Nasen-Schutz (MNS) bezeichnet – und das Einhalten des Mindestabstandes implizieren eine Veränderung der gewohnten sozialen Interaktion.

Ob MNS getragen oder der Mindestabstand eingehalten wird, hängt nicht nur von der persönlichen Risikowahrnehmungen und Einstellung ab, sondern auch davon, ob sich dieses Verhalten als soziale Norm etabliert hat. Soziale Normen beeinflussen das Verhalten über den Wunsch, die Erwartungen Anderer zu erfüllen (Erwarte ich, dass die anderen von mir erwarten, dass ich mich an die Schutzregeln halte?) oder über die Beobachtung des Verhaltens der Anderen (Weil andere die Regeln befolgen, befolge auch ich sie – oder umgekehrt, weil andere die Regeln nicht einhalten, befolge auch ich sie nicht).

Rechtliche und soziale Normen stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander: Einerseits stützen sie sich gegenseitig, andererseits können sie sich wechselseitig unterminieren. Eine rechtliche Norm erhebt einen Allgemeingültigkeitsanspruch und ist mit einer eindeutigen Sanktionsandrohung bewehrt. Damit erleichtert sie die soziale Interaktion insofern, als sich die Person, die sich an die Regel hält, im Recht sehen kann, da klar definiert ist, welches Verhalten gewünscht, erlaubt oder verboten ist und welches nicht. Somit ist eine Rechtsnorm ein Ausgangspunkt für die Entstehung einer sozialen Norm. Die soziale Norm wiederum führt dazu, dass das Gesetz auch dann eingehalten wird, wenn keine Sanktion zu befürchten ist, weil entweder die Internalisierung der Norm („Selbstverständlichkeit“) oder wechselseitige Erwartungen der Normkonformität seine Einhaltung stützen. Wenn aber die Einsicht in die Sinnhaftigkeit oder Rechtmäßigkeit des Gesetzes fehlt, dann werden Menschen sich ergebende Chancen nutzen, sich nicht normkonform zu verhalten. Aber wie tragen rechtliche und soziale Normen in der Pandemie zur Einhaltung der AHA-Regel bei?

Die Analyse nutzt die Daten des Austrian Corona Panel Project (ACPP) (Kittel et al. 2020a, b), in dem seit Ende März 2020 etwa 1.500 Personen repräsentativ für die österreichische Bevölkerung abbilden. Das ACPP ermöglicht dank seines Paneldesigns die Nachverfolgung vieler Variablen auf der individuellen Ebene in Zeitverlauf.

Zunächst sehen wir uns die grundsätzliche Bereitschaft an, gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie anzuerkennen. Das verpflichtende Tragen des MNS in öffentlichen Räumen, in denen sich viele Menschen auf engem Raum begegnen sowie das Verbot von Veranstaltungen, das hier näherungsweise als Indikator für die Einstellung zur Einhaltung des Mindestabstands verwendet wird, weil es bei Veranstaltungen besonders schwer ist, den Mindestabstand einzuhalten, sind – gemeinsam mit der Einschränkung der Reisefreiheit – jene Maßnahmen, welche die höchste Zustimmung in der österreichischen Bevölkerung erfahren (Abbildung 1). Für alle gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen ist eine Wellenform zu beobachten, die von relativ hoher Zustimmung im April 2020 auf geringere Zustimmung im Juni 2020 sinkt und dann entweder konstant auf niedrigem Niveau verbleibt oder mit dem Ansteigen der Fallzahlen wieder ansteigt. Selbst in der ruhigeren Phase der Pandemie im Juni und Juli 2020 war eine Mehrheit der Bevölkerung jedoch für eine Maskenpflicht und gegen die Aufhebung des Verbots von Veranstaltungen.


Abbildung 1: Geltung der Maßnahmen

Die Formulierung der Fragestellung mit „sollte gelten“ zielt auf die subjektive Überzeugung der Personen ab und kann somit als Indikator der Überzeugung von der Sinnhaftigkeit einer Maßnahme betrachtet werden. Betrachtet man nun Abbildung 2, so sieht man, dass sich, im Gegensatz zu der zuvor beobachteten breiten Einsicht, die Überzeugung von der Effektivität der Maßnahmen in die andere Richtung entwickelt. Während die Effektivität zwischen April und Juni 2020 von einer breiten Mehrheit als hoch bis sehr hoch eingeschätzt wurde, begann diese Zuversicht im Juli zu sinken und erreichte im September einen vorläufigen Tiefstand: Nur mehr einem Drittel der Befragten schätzt die Effektivität als hoch bis sehr hoch ein. Es entstand also eine sich vergrößernde Lücke zwischen der steigenden Überzeugung der Sinnhaftigkeit und der sinkenden Überzeugung, dass die geltenden Maßnahmen effektiv zur Eindämmung der Pandemie beitragen.

Abbildung 2: Effektivität der Maßnahmen

Die Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Sinnhaftigkeit und der Effektivität verweist sowohl auf die Bedeutung sozialer Normen als auch auf deren Wirksamkeit. Abbildung 3 vergleicht die Selbstauskunft über das eigene Verhalten mit der Wahrnehmung des Verhaltens Anderer im Verlauf der Pandemie im Hinblick auf den MNS und die Abstandsregel. Diese Daten wurden zuletzt im August 2020 abgefragt. Aus der Grafik lassen sich mehrere Befunde ableiten. Erstens gilt für beide Regeln, dass mehr Befragte meinen, sich selbst nahezu immer oder meistens an die Regeln zu halten, als sie dies bei anderen beobachten. Zweitens sinken im Zeitverlauf sowohl die eigene Normkonformität als auch jene, die bei anderen wahrgenommen wird, wobei dieser Prozess bei der Wahrnehmung des Verhaltens Anderer deutlich rascher vorangeht. Drittens sind die beiden stärksten Rückgänge der eigenen Normeinhaltung nach Lockerungen der Maßnahmen im Frühjahr 2020 zu beobachten: Mit 1. Mai wurden viele Restriktionen aufgehoben und in der darauffolgenden Befragungswelle sank der Anteil derjenigen, die sagen, sich „nahezu immer“ an die Abstandregel zu halten, von 78,5 auf 64,1 Prozent. Am 15. Mai konnte die Gastronomie wieder öffnen und in der Befragung Mitte Juni sank der Anteil derjenigen, die sich „nahezu immer“ an die Abstandregel halten, nochmals um 20 Prozentpunkte auf 44,5 Prozent.

Abbildung 3: Eigenes Verhalten und Verhalten anderer

Ein ähnliches, wenn auch in wesentlichen Nuancen doch anders geartetes Bild ergibt sich für die MNS-Pflicht. Sowohl die eigene als auch die bei anderen wahrgenommene Normkonformität beginnt auf deutlich niedrigerem Niveau und sinkt im Verlauf der Pandemie auf Werte, die immer unterhalb der Einhaltung der Abstandsregel liegen. Ein zweiter Befund ist, dass die Normkonformität des eigenen Verhaltens zwischen April und Mai etwas ansteigt, wenn auch nur als Verschiebung zwischen „meistens“ und „nahezu immer“, zum Juni aber stark absinkt. Dies erfolgt genau in jener Zeit, in der die Verpflichtung zum Tragen des MNS weitgehend gelockert wurde. Auch die teilweise Wiedereinführung der Maskenpflicht Ende Juli konnte diese Verluste in der eigenen und von anderen wahrgenommenen Konformität nicht wettmachen. Der Anteil derjenigen, die selbst den MNS „nahezu nie“ oder „selten“ tragen, steigt demnach von 18 Prozent im April auf 27 Prozent im August, beim wahrgenommenen Verhalten der anderen beobachten wir einen Anstieg von 21 Prozent im April auf 46 Prozent im August 2020.

Schlussfolgerungen

Die Einhaltung der AHA-Regel hat sich als entscheidender Faktor der Eindämmung der COVID-19-Pandemie herausgestellt. Dies ist die zentrale Herausforderung der gegenwärtigen Strategie zur Bekämpfung der Pandemie, wenn in das gesellschaftliche Leben stärker eingreifende Maßnahmen bis hin zu einem neuerlichen Lockdown vermieden werden sollen. In der Analyse hat sich gezeigt, dass zwei Faktoren eine wesentliche Rolle spielen: die individuelle Einsicht in die Sinnhaftigkeit der Regel und die gesetzliche Verpflichtung zur Einhaltung der Regel. Die Einsicht in die Sinnhaftigkeit ist gegenwärtig weit verbreitet, aber die gegenwärtig rasch ansteigenden Ansteckungen zeigen, dass dies nicht ausreicht, um die Pandemie einzudämmen. Die gesetzliche Verpflichtung unterstützt diejenigen, die die Regel befolgen, bei der Aufrechterhaltung der Motivation zur Normbefolgung (s.a. Betsch et al. 2020). Gleichzeitig unterminiert hingegen die Beobachtung mangelnder Normkonformität bei anderen Menschen diese Motivation.


Bernhard Kittel ist Universitätsprofessor am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Experimentelle Gerechtigkeitsforschung, Experimentelle Gremien- und Wahlforschung, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktforschung sowie International vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsbeziehungen.

Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.


Literatur

Alwan, Nisreen A., Rochelle Ann Burgess, Simon Ashworth, Rupert Beale, Nahid Bhadelia, Debby Bogaert, Jennifer Dowd, Isabella Eckerle, Lynn R. Goldman, Trisha Greenhalgh, Deepti Gurdasani, Adam Hamdy, William P. Hanage, Emma B. Hodcroft, Zoë Hyde, Paul Kellam, Michelle Kelly-Irving, Florian Krammer, Marc Lipsitch, Alan  McNally, Martin McKee, Ali Nouri, Dominic Pimenta, Viola Priesemann, Harry Rutter, Joshua Silver, Devi Sridhar, Charles Swanton, Rochelle P. Walensky, Gavin Yamey, and Hisham Ziauddeen. 2020. “Scientific Consensus on the COVID-19 Pandemic: We Need to Act Now.” The Lancet 0(0). doi: 10.1016/S0140-6736(20)32153-X.

Betsch, Cornelia, Lars Korn, Philipp Sprengholz, Lisa Felgendreff, Sarah Eitze, Philipp Schmid, und Robert Böhm. 2020. “Social and Behavioral Consequences of Mask Policies during the COVID-19 Pandemic.” Proceedings of the National Academy of Sciences 117(36):21851–53. doi: 10.1073/pnas.2011674117.

Chu, Derek K., Elie A. Akl, Stephanie Duda, Karla Solo, Sally Yaacoub, Holger J. Schünemann, Derek K. Chu, Elie A. Akl, Amena El-harakeh, Antonio Bognanni, Tamara Lotfi, Mark Loeb, Anisa Hajizadeh, Anna Bak, Ariel Izcovich, Carlos A. Cuello-Garcia, Chen Chen, David J. Harris, Ewa Borowiack, Fatimah Chamseddine, Finn Schünemann, Gian Paolo Morgano, Giovanna E. U. Muti Schünemann, Guang Chen, Hong Zhao, Ignacio Neumann, Jeffrey Chan, Joanne Khabsa, Layal Hneiny, Leila Harrison, Maureen, Smith, Nesrine Rizk, Paolo Giorgi Rossi, Pierre AbiHanna, Rayane El-khoury, Rosa Stalteri, Tejan Baldeh, Thomas Piggott, Yuan Zhang, Zahra Saad, Assem Khamis, Marge Reinap, Stephanie Duda, Karla Solo, Sally Yaacoub, and Holger J. Schünemann. 2020. “Physical Distancing, Face Masks, and Eye Protection to Prevent Person-to-Person Transmission of SARS-CoV-2 and COVID-19: A Systematic Review and Meta-Analysis.” The Lancet 395(10242):1973–87. doi: 10.1016/S0140-6736(20)31142-9.

Kittel, Bernhard, Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarden, Barbara Prainsack, Jakob-Moritz Eberl, Fabian Kalleitner, Noëlle S. Lebernegg, Julia Partheymüller, Carolina Plescia, David W. Schiestl and Lukas Schlogl (2020a, im Erscheinen) The Austrian Corona Panel Project: Monitoring Individual and Societal Dynamics amidst the COVID-19 Crisis, in: European Political Science http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.3654139.

Kittel, Bernhard, Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarden, Barbara Prainsack, Jakob-Moritz Eberl, Fabian Kalleitner, Noëlle S. Lebernegg, Julia Partheymüller, Carolina Plescia, David W. Schiestl and Lukas Schlogl (2020b) Austrian Corona Panel Project (SUF edition), Austrian Social Science Data Archive, https://doi.org/10.11587/28KQNS.

Meyerowitz, Eric A., Aaron Richterman, Rajesh T. Gandhi, and Paul E. Sax. 2020. “Transmission of SARS-CoV-2: A Review of Viral, Host, and Environmental Factors.” Annals of Internal Medicine. doi: 10.7326/M20-5008.

Prather, Kimberly A., Chia C. Wang, and Robert T. Schooley. 2020. “Reducing Transmission of SARS-CoV-2.” Science 368(6498):1422–24. doi: 10.1126/science.abc6197.

Fußnoten

[1] Wir danken einem aufmerksamen Leser für den Hinweis auf eine unscharfe Formulierung des Konsenses in einer früheren Fassung dieses Blogs.