29.09.2020 – PDF
Ansteckungsgefahr im Wahllokal? Die Neigung zur Nicht- und Briefwahl in der Coronakrise
- Je höher die Ansteckungsgefahr im Wahllokal eingeschätzt wird, umso größer ist Neigung zur Nichtwahl und zur Briefwahl.
- Die Einschätzung der Ansteckungsgefahr unterscheidet sich über die Parteien hinweg: Am größten ist die Besorgnis bei ÖVP-Wähler*innen, am geringsten bei den Wähler*innen der FPÖ.
- Wähler*innen aller Parteien bevorzugen gegenwärtig vermehrt das Instrument der Briefwahl. Besonders stark ist die Zunahme bei NEOS und Grünen, die aber auch bereits 2019 häufiger zur Abstimmung per Briefwahl tendierten.
Von Carolina Plescia, Julia Partheymüller und Sylvia Kritzinger
Die Wahlbeteiligung ist für repräsentative Demokratien von entscheidender Bedeutung, geht es doch um die Zusammensetzung der Volksvertretungen für die nächste Legislaturperiode. Eine geringe Wahlbeteiligung kann dazu führen, dass bestimmte Gruppen und ihre Interessen nicht vertreten sind. Besonders in Zeiten einer gesundheitlichen Krise, wie der Coronakrise, könnte sich das Risiko einer geringen Wahlbeteiligung erhöhen, wenn die Menschen fürchten, sich bei der Stimmabgabe im Wahllokal anzustecken. Um dennoch an der Wahl teilzunehmen und sich so nicht einer Ansteckungsgefahr auszusetzen, können Wähler*innen in Österreich von der Briefwahl Gebrauch machen. Der vorliegende Blogbeitrag geht daher der Frage nach: Welche Wähler*innen würden in Zeiten einer Pandemie welche Stimmabgabe bevorzugen und welche Faktoren (z.B. Ansteckungsgefahr) stehen damit in Zusammenhang?
Von unseren Befragten (N=1.524; 09/2020) gibt etwa ein Viertel an, dass das Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus im Wahllokal groß bzw. sehr groß ist. Abbildung 1 verdeutlicht einerseits den Zusammenhang zwischen Ansteckungsgefahr und der Wahrscheinlichkeit, an der Wahl teilzunehmen, (linkes Panel) und andererseits den Zusammenhang zwischen Ansteckungsgefahr und dem Abstimmungsmodus – sprich: ob die Wähler*innen eine Stimmabgabe im Wahllokal oder aber per Briefwahl bevorzugen würden (rechtes Panel). In Bezug auf die Wahlteilnahme ist ersichtlich, dass bei Wähler*innen, die eine größere Ansteckungsgefahr befürchten, die Wahrscheinlichkeit einer Wahlteilnahme etwas geringer ausfällt als bei jenen, die geringe Befürchtungen hinsichtlich einer Ansteckung hegen.
Etwas anders gestaltet sich das Bild hinsichtlich des Modus der Stimmabgabe. Die Mehrheit der Befragten, die von einem kleinen Ansteckungsrisiko ausgehen sehen, zieht es vor, im Wahllokal abzustimmen (65%), während die Mehrheit derer, die ein großes Risiko sehen, einer Briefwahl den Vorzug geben würden (57%). Interessant ist, dass jedoch 43% der Befragten, die ein großes bzw. sehr großes Infektionsrisiko im Wahllokal sehen, dennoch im Wahllokal wählen würden.
Auch wenn die Briefwahl also in Zeiten einer Pandemie als adäquates Mittel fungieren könnte, die Wahlbeteiligung zu erleichtert, bleibt sie dennoch – nicht nur in Ländern wie den USA, sondern auch in Österreich – ein umstrittenes Thema. Neben der Sorge um Wahlmanipulation besteht insbesondere die Befürchtung, dass manche Parteien mehr als andere davon profitieren könnten. Bei Nationalratswahlen in Österreich konnten in der Vergangenheit insbesondere Grüne und NEOS von Briefwahlstimmen profitieren.
Zwei Fragen gilt es in diesem Zusammenhang näher zu beleuchten. Erstens: Schätzen Wähler*innen unterschiedlicher Parteien die Gefahr der Stimmabgabe im Wahllokal als unterschiedlich hoch ein? Abbildung 2 gibt darauf eine Antwort: Besonders Wähler*innen der FPÖ und insbesondere der NEOS schätzen die Gefahr als gering ein. Aber auch die relative Mehrheit der Wähler*innen über alle Parteigrenzen hinweg sieht nur ein kleines oder sehr kleines Ansteckungsrisiko.
Die zweite Frage, die damit in unmittelbarem Zusammenhang steht, ist: Gibt es Unterschiede zwischen den Wähler*innen in Bezug auf die Art und Weise, welche Abstimmungsmodalität sie während der Coronakrise bevorzugen? Auch hier stechen zuallererst die Gemeinsamkeiten ins Auge: Abbildung 3 zeigt, dass Wähler*innen aller Parteien bei einer hypothetischen Wahl im Jahr 2020 häufiger zur Briefwahl greifen würden, als sie es 2019 taten. Es ist also zu erwarten, dass bei Wahlen während der Pandemie der Anteil der Briefwähler*innen deutlich ansteigt.
Dabei bestehen jedoch Unterschiede zwischen den Wähler*innen der verschiedenen Parteien. Während FPÖ-Wähler*innen am seltensten das Instrument der Briefwahl nutzen würden, gibt es bei den Wähler*innen von SPÖ, Grünen und NEOS nur eine relative Minderheit, die die Stimmabgabe im Wahllokal bevorzugen würden. Für die ÖVP-Wähler*innen gestaltet sich das Bild etwas komplexer: Obwohl ÖVP-Wähler*innen zwar das größte Ansteckungsrisiko im Wahllokal sehen (siehe Abbildung 2), würden sie die Möglichkeit der Briefwahl vergleichsweise selten in Anspruch nehmen wollen.
Fazit
Wer eine Ansteckungsgefahr im Wahllokal befürchtet, zeigt eine geringere Bereitschaft zur Wahlteilnahme und eine stärkere Neigung zur Abstimmung per Briefwahl. Dabei variiert die Wahrnehmung der Gefahren über die Parteigrenzen hinweg: Insbesondere FPÖ-Wähler*innen halten die Gefahr für gering, am größten ist die Besorgnis bei ÖVP-Wähler*innen. Während Wähler*innen aller Parteien bei einer hypothetischen Wahl 2020 vermehrt zur Briefwahl greifen würden, zeigen sich auch hier Unterschiede im Ausmaß der Neigung zur Briefwahl. Insbesondere Wähler*innen von Parteien, die bereits in der Vergangenheit viele Briefwahlstimmen erhielten, würden nun noch häufiger zur Briefwahl greifen, wodurch bestehende Parteiunterschiede bei der Briefwahl sich noch zusätzlich verstärken würden. Daher sollten Parteien, deren Anhänger*innen besonders bezüglich der Ansteckungsgefahr besorgt sind, versuchen, ihnen das Instrument der Briefwahl näher zu bringen, um zu verhindern, dass viele Wähler*innen bei der Wahl zu Hause bleiben und die Wahlbeteiligung sinkt. Für die repräsentative Demokratie wäre eine niedrige Wahlbeteiligung in jedem Fall ein schlechtes Ergebnis. Instrumentarien, die eine möglichst breite Teilhabe an Wahlen auch in Zeiten von Pandemien ermöglichen sollten daher gestärkt werden.
Carolina Plescia ist Assistenzprofessorin am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Sie promovierte am Trinity College Dublin und forscht zu Themen wie öffentliche Meinung, Wahlkampf und Parteiwahl.
Julia Partheymüller arbeitet als Senior Scientist am Vienna Center for Electoral Research (VieCER) der Universität Wien und ist Mitglied des Projektteams der Austrian National Election Study (AUTNES). Sie promovierte in Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim und studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Universität Hamburg.
Sylvia Kritzinger ist Professorin für Methoden in den Sozialwissenschaften am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, eine der Projektleiter*innen der Austrian National Election Study (AUTNES) und stellvertretende Leiterin des Vienna Center for Electoral Research (VieCER).
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