18.09.2020 - PDF
Wer hat Angst vor einer zweiten Welle? Gefahrenwahrnehmung in der Corona-Krise
- Eine Mehrheit der Menschen in Österreich (54%) schätzt die Gefahr einer zweiten Welle als groß oder sehr groß ein. Nur 13% sehen eine kleine Gefahr durch eine zweite Welle.
- Die wahrgenommene Gefahr einer zweiten Welle hat im Verlauf des Sommers in allen analysierten Gruppen zugenommen, besonders bei Menschen über 65 Jahren. Grünwähler*innen und Frauen nehmen eine mögliche zweite Welle durchschnittlich als größere Gefahr wahr, während FPÖ-Wähler*innen die Gefahr als kleiner betrachten.
- Im Juni erhöhte sich die gesundheitliche Gefahrenwahrnehmung (persönlich und für Österreich) erstmals seit Beginn der Erfassung während des Lockdowns im März und April 2020 und steigt seit diesem Zeitpunkt wieder an.
- Auch die Einschätzung der wirtschaftlichen Gefahr ist seit dem Lockdown gesunken, aber im Gegensatz zur gesundheitlichen Gefahrenwahrnehmung ist bisher kein erneuter signifikanter Anstieg zu verzeichnen.
von Markus Pollak
Mitte September 2020 verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz den mutmaßlichen Beginn der viel diskutierten zweiten Welle. Während in den letzten Tagen die Gefahr einer zweiten Welle intensiv diskutiert wurde, hat sich die Gefahrenwahrnehmung der Krise im Laufe der vergangenen Monate dynamisch entwickelt. Das Coronavirus wurde vor allem zu Beginn der Krise in Österreich als große gesundheitliche und wirtschaftliche Gefahr eingeschätzt (siehe Blogbeitrag 1).
Wenn eine Situation weithin als Gefahr für die Gesellschaft oder den Staat betrachtet wird, spricht man in der Politikwissenschaft auch von “Securitization” (“Versicherheitlichung”). Die Wahrnehmung einer akuten Bedrohung für die gesundheitliche Sicherheit kann signifikante Effekte auf die politische Wichtigkeit des betreffenden Themas, die Einhaltung staatlicher Maßnahmen (Compliance) sowie auf die Intensität der beschlossenen Maßnahmen haben. Forschungsergebnisse aus der Sozialpsychologie zeigen zudem, dass Angst als Resultat von Unsicherheit die Aufnahme neuer Informationen und die Offenheit für Meinungsänderungen erhöht. Außerdem wird durch Angst risikominimierendes Verhalten verstärkt. Demnach ist die Gefahrenwahrnehmung ein wichtiger Einflussfaktor sowohl für die individuelle Krisenbewältigung (z.B. die Einhaltung der Maßnahmen) als auch für die Entscheidungen politischer Akteure.
In diesem Beitrag wird die aktuell Gefahreneinschätzung einer zweiten Welle sowie die Wahrnehmung der allgemeinen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Gefahr in der Corona-Krise im Zeitverlauf dargestellt.
Gefahr einer zweiten Welle
Die Gefahr einer zweiten Welle wurde im August von einer Mehrheit der Menschen in Österreich (54%) als groß bzw. sehr groß wahrgenommen. 32,9% sahen eine mittelmäßige Gefahr einer zweiten Welle und nur 13% schätzten diese als klein oder sehr klein ein (siehe Abbildung 1). Die wahrgenommene Gefahr einer zweiten Welle hat sich im Verlauf des Sommers nur geringfügig erhöht. Während im Juni 51,7% eine sehr große oder große Gefahr einer zweiten Welle sahen, waren es im August trotz steigender Infektionszahlen nur 2,3% mehr. Auffällig ist allerdings, dass sich der Anteil an Personen, die eine “sehr große” Gefahr sehen, um 7,1% erhöhte. Damit betraf diese sehr hohe Gefahrenwahrnehmung im August nahezu jeden vierten Menschen in Österreich (24%).
Beim Vergleich der Mittelwerte der Gefahrenwahrnehmung verschiedener Gruppen zu zwei Zeitpunkten (Ende Juni [Welle 12] und Mitte August [Welle 14]) fällt auf, dass meist keine größeren Unterschiede in der Gefahreneinschätzung vorhanden sind (siehe Abbildung 2). Frauen schätzen die Gefahr einer zweiten Welle im Durchschnitt etwas höher ein als Männer. Außerdem nehmen Wähler*innen der Grünen eine höhere Gefahr einer zweiten Welle an als Wähler*innen anderer Parteien. Da auch ÖVP Wähler*innen zuletzt erhöhte Werte aufwiesen, ist auffällig, dass Wähler*innen der Regierungsparteien im Vergleich zu Oppositionsparteien im Durchschnitt eine höhere Gefahr wahrnehmen. Wähler*innen der FPÖ sehen im Vergleich zu allen anderen Parteien eine durchschnittlich kleinere Gefahr.
Unterschiedliche Altersgruppen schätzen die Gefahr einer zweiten Welle ähnlich groß ein, wenngleich sich die Gefahrenwahrnehmung der Menschen ab 65 Jahren, also Menschen in der Risikogruppe, im Verlauf des Sommers deutlich erhöht hat. Bildungsunterschiede alleine erklären keine Differenzen in der Einschätzung der Gefahr einer zweiten Welle.
Gesundheitliche und wirtschaftliche Gefahr im Zeitverlauf
Seit Beginn des Austrian Corona Panel Project Ende März wurde zudem die gesundheitliche und wirtschaftliche Gefahrenwahrnehmung gemessen. Dabei wurde zunächst nach der “gesundheitlichen Gefahr für mich selbst” und dann nach der “gesundheitlichen Gefahr für die österreichische Bevölkerung” gefragt. Neben der gesundheitlichen Gefahr wurde auf beiden Ebenen auch die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Gefahr gemessen, was den sozio-ökonomischen und volkswirtschaftlichen Risiken und Problemen der Krise Rechnung trägt, die immer wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte geraten. Die beiden Arten der Gefahrenwahrnehmung unterscheiden sich grundlegend, aber ein Vergleich erlaubt einen ersten Blick auf das komplexe Zusammenspiel der beiden unterschiedlich wahrgenommenen Gefahren in der Krise.
Die Skala beider Fragen beinhaltete die Antwortmöglichkeiten “sehr kleine Gefahr” (1), “kleine Gefahr” (2), “mittelmäßige Gefahr” (3), “große Gefahr” (4) und “sehr große Gefahr” (5). Wie in Abbildung 3 zu sehen, wurde dabei während des gesamten Erhebungszeitraums die wirtschaftliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung durchschnittlich am größten eingeschätzt (zwischen 3,64 - 4,28). Damit wurde für diese Variable im ganzen Erfassungszeitraum im Durchschnitt eine hohe Gefahr wahrgenommen, wenngleich eine deutliche Abnahme zu verzeichnen ist. Deutlich geringer wurde die gesundheitliche Gefahr für die österreichische Bevölkerung eingeschätzt (zwischen 2,65 - 3,67), gefolgt von der persönlichen wirtschaftlichen Gefahr (zwischen 2,6 - 3,15). Am niedrigsten wurde die persönliche gesundheitliche Gefahr eingeschätzt (zwischen 2,04 - 2,87).
Von Ende März bis Anfang Juni 2020 war ein deutliches Absinken aller Werte zu verzeichnen, was eine deutliche Abnahme der Wahrnehmung hoher gesundheitlicher und wirtschaftlicher Gefahr bedeutet. Besonders stark haben sich dabei die Werte der beiden Variablen der gesundheitlichen Gefahrenwahrnehmung verringert. Die persönliche gesundheitliche Gefahrenwahrnehmung sank von einem Durchschnitt von 2,87 (ca. mittelmäßige Gefahr) auf 2,04 (kleine Gefahr). Im Mai und Juni 2020 sank die Beurteilung einer gesundheitlichen Gefahr für die österreichische Bevölkerung von einem hohem Niveau im März (3,67, mittelmäßige - hohe Gefahr) auf beinahe dasselbe durchschnittliche Niveau (2,65, kleine - mittelmäßige Gefahr) wie die der persönlichen wirtschaftlichen Gefahr Anfang Juni (2,6).
Seit am 31. Mai 2020 die geringste Anzahl an Neuinfektionen (5) seit Beginn der Krise gemeldet wurde, erhöhte sich während des Sommers die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen schrittweise. Seit Juni ist auch bei beiden Variablen der gesundheitlichen Gefahrenwahrnehmung erstmalig ein erneuter signifikanter Anstieg (+0,39 und +0,43) zu verzeichnen, der sich bis August forsetzte. Bisher ist kein vergleichbarer Anstieg bei den Variablen zur Einschätzung der wirtschaftlichen Gefahr zu messen. Ein möglicher Grund dafür ist die bisherige Zurückhaltung, trotz steigender Infektionszahlen, erneut restriktive, die Wirtschaft weitreichend einschränkende Maßnahmen einzuführen.
Conclusio
Die wahrgenommene Gefahr einer zweiten Welle in Österreich war während des Sommers hoch. Vor allem Frauen, Menschen über 65 und Wähler*innen der Regierungsparteien schätzten diese Gefahr besonders hoch ein.
Die gesundheitliche Gefahr des Coronavirus wurde zuletzt im Vergleich zu den Werten von Anfang Mai bis Anfang Juni wieder deutlich höher eingeschätzt, wenngleich das Niveau der ersten Messungen Ende März noch nicht erreicht wurde. Der Anstieg der wahrgenommenen gesundheitlichen Gefahr verlief damit im selben Zeitrahmen, in dem sich auch die täglichen Covid-19 Infektionsmeldungen, nach dem Tiefstand am 31. Mai 2020, wieder erhöhten. Die wahrgenommene wirtschaftlichen Gefahr durch das Coronavirus, die auf persönlicher und österreichischer Ebene größer eingeschätzt wird als die gesundheitliche Gefahr, hat sich während des Sommers kaum verändert.
Wie die Messungen zu Beginn der Krise bestätigen, war die Wahrnehmung der verschiedenen Gefahren während des Lockdowns besonders hoch. Hohe Alarmiertheit bzw. Angst waren wichtige Faktoren, die die Einhaltung und Legitimation der strikten Maßnahmen in dieser Phase beeinflussten. Ob der neuerliche Anstieg in der Gefahrenwahrnehmung wieder mit einer erhöhten Bereitschaft zur Einhaltung von Maßnahmen einhergehen wird, kann noch nicht eingeschätzt werden.
Markus Pollak arbeitet als Studienassistent am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien und ist Teil des Teams des Austrian Corona Panel Project (ACPP). Er studiert im Master Politikwissenschaft.