18.08.2020
Das Nationale Zugehörigkeitsgefühl in Österreich während des Lockdowns
von Dieter Reicher, Markus Hadler und Nico Tackner
Die COVID19-Krise und die damit einhergehenden Grenzschließungen und Betrachtungen der nationalen Fallzahlen hat die Bedeutung von Staaten und Nationen gegenüber internationalen Verbünden wie der Europäische Union betont. Die Frage nach der "nationalen" Zugehörigkeit ist daher von besonderem sozialwissenschaftlichen Interesse - weil Staaten zum einen in Theorien des Nationalstaates eine besonders große Fähigkeit zur Überwindung von außergewöhnlichen Krisen unterstellt wird (vgl. Tilly 1992, Mann 1998, Elias 2006 [1971]) und, zum anderen, weil Krisen und dadurch veranlasste Staatsaktivitäten, das "Wir"-Gefühl der Bevölkerung verstärken können. Auch in Österreich waren in der Anfangsphase der COVID19-Krise Anklänge "national" aufgefasster "Wir-Diskurse" zu vernehmen. Hat sich diese außergewöhnliche Situation des Lockdowns, bzw. haben sich diese Diskurse auch auf die Stärke "national" verstandener Zugehörigkeit ausgewirkt?
Abbildung 1 zeigt, wie stark sich die Österreicherinnen und Österreicher mit ihrem Wohnort, Bundesland, Österreich und Europa im April 2020 verbunden fühlten. Die Ergebnisse legen dar, dass sich der größte Teil der Bevölkerung sehr eng oder eng mit Österreich verbunden fühlt. Nur etwas mehr als vierzehn Prozent gaben an, sich nicht sehr eng oder überhaupt nicht mit dem eigenen Nationalstaat verbunden zu fühlen.
Abbildung 1 zeigt auch, dass sich die Befragten mit dem Nationalstaat stärker verbunden fühlen als mit anderen territorialen Einheiten. 46,5 Prozent der Befragten gaben an, sich mit Österreich sehr eng verbunden zu fühlen; 37,1 Prozent mit ihrem Bundesland; 37,1 Prozent mit ihrem Wohnort; aber nur 16,3 Prozent mit „Europa“. Allerdings lässt das Antwortverhalten der Befragten offen, was diese unter „Europa“ genau verstehen, ob sie damit die Europäische Union meinen (der in den Medien eine zögerliche Haltung in der Krise vorgeworfen wurde, siehe z.B. hier) oder bloß ein geographisches Gebiet.
Diese Daten aus dem April 2020 präsentieren nur eine Momentaufnahme. Vergleicht man die Angaben mit dem Antwortverhalten der Befragten im European Values Survey (EVS) des Jahres 2017 (siehe Abbildung 2), so zeigt sich, dass die Verbundenheit mit dem Wohnort, dem Bundesland und Europa in 2020 signifikant niedriger ist als in 2017, während die Verbundenheit mit Österreich gleichblieb (Unterschiede nicht signifikant). Versucht man diese Ergebnisse zur Verbundenheit mit Österreich in einer noch langfristigeren Perspektive einzuordnen, so sind die Werte für 2017 und 2020 insgesamt eher als niedrige Verbundenheit einzustufen. Lag der Mittelwert für die nationale Verbundenheit in 2020 bei 3,3 und in 2017 bei 3,35 (Abbildung 2), betrugen diese Werte bei der Erhebung des International Social Survey Programmes (ISSP) 1995 noch 3,46 und in 2003 sogar 3,53.
Vergleicht man die Werte der Corona-Studie hinsichtlich der Frage wie stolz die Befragten sind, Österreicher/in zu sein, mit der gleichen Frage im ISSP Survey 2003 (siehe Abbildung 3), so wird sichtbar, dass damals noch 50,4% der Befragten sehr stolz waren, Österreicher/innen zu sein, während es 2020 nur noch 43,7% waren. Allerdings zeigt Reicher (2020: 111ff.) auch, dass im Vergleich zu den meisten anderen westeuropäischen Ländern gerade in Österreich in diesem Zeitraum ein umgekehrt gepolter Trend auszumachen ist, denn in den anderen Ländern steigen die Werte zumeist tendenziell.
In Summe liefern diese Daten also keinen Hinweis auf einen sprunghaften Anstieg des Nationalgefühls aufgrund der COVID-19 Krise. Andererseits ist die nationale Verbundenheit aber auf gleichem Niveau wie 2017 geblieben, während die Werte für den Wohnort, das Bundesland und, vor allem, für Europa gesunken sind. Das ist ein Indikator dafür, dass die nationale Verbundenheit in der Krise doch eine gewisse Relevanz behielt. Gemeinsam betrachtet mit dem starken Rückgang der Verbundenheit mit Europa von 2017 auf 2020, decken sich die Einstellungen der Befragten also mit Medienkommentaren (siehe z.B. hier), dass der Nationalstaat und nicht die EU der eigentlich relevante Akteur in der Krise sei.
Dieter Reicher, 26.5. 1971, ist Assoz. Prof. am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Historische Soziologie, Figurations- und Prozesssoziologie, Nations- und Staatsbildungsprozesse, Sportsoziologie und Filmsoziologie.
Markus Hadler, Univ.-Prof. am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Internationaler Gesellschaftsvergleich, Umweltsoziologie und Forschungsmethoden.
Nico Tackner ist Studienassistent am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz und forscht und lehrt dort zu Quantitativen Methoden, Ludwig Gumplowicz und Nationalismus.
Literaturverzeichnis
- Elias, Norbert (2006 [1970]). Was ist Soziologie? (Gesammelte Schriften 5), Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
- Mann, Michael (1998). Geschichte der Macht. Band 3: Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten (Teil I). Campus: Frankfurt am Main.
- Reicher, Dieter (2020). Kulturnationalismus. Wir-Krise und Nationalstaat. Eine historische Untersuchung in vier unterschiedlichen Kulturfeldern. Nomos: Baden-Baden.
- Tilly, Charles (1992). Coercion Capital, and European states. AD 990-1992. Blackwell: Oxford.
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