29.05.2020

Die normative Macht der „anderen“: Verhaltensregeln in der Krise und ihre Einhaltung

  • Zu Beginn der Krise gaben große Anteile der Befragten an, sich an die Maßnahmen zu halten
  • Auch das Verhalten anderer wurde anfangs überwiegend als regelkonform eingeschätzt
  • Nach den Lockerungen sinken sowohl die eigene wie auch die allgemein wahrgenommene Befolgung der Maßnahmen – mit Ausnahme des Tragens von Schutzmasken
  • Die Befragten orientieren sich nun stärker am Verhalten anderer, als dies zu Beginn der Krise der Fall war
  • Männer und jüngere Personen halten sich nach eigenen Aussagen insgesamt weniger an die Maßnahmen als Frauen und ältere Personen

Von David W. Schiestl, Fabian Kalleitner, Bernhard Kittel

Viel wurde in den letzten Wochen über das Einhalten von Regeln zur Verringerung der Infektionsgefahr gesprochen. Gesundheitsminister Anschober betonte etwa am 19. März, dass sich 90-95% der Bevölkerung an die Regeln halten würden. Innenminister Nehammer forderte zugleich die Polizei auf, die Rolle einer „Trennscheibe“ einzunehmen, welche die Infektionsketten unterbrechen sollte. Doch wie wurden die Maßnahmen von der österreichischen Bevölkerung gesehen? Um diese Frage zu beantworten, stellten wir unseren Studienteilnehmer*innen mehrere Fragen: Eine behandelt die Einschätzung des Verhaltens anderer, eine weitere das eigene Verhalten, jeweils in Bezug auf die Einhaltung der von der Regierung eingeführten Maßnahmen. Diese beiden Aspekte wurden in Welle 3 (10.-16.4.) und Welle 7 (8.-13.5.) abgefragt. Außerdem erfassen wir mit einer wöchentlich gestellten Frage die Zustimmung zur Aussage „Solange andere ihr Verhalten nicht ändern, muss ich mein Verhalten bezüglich der Corona-Krise auch nicht ändern“. Dieser Blogbeitrag zeichnet die Selbst- und Fremdeinschätzungen über regelkonformes Verhalten in der Krise nach und wirft einen Blick auf die Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren.

Wie schätzen die Befragten das Verhalten anderer ein?

Die Einschätzungen unserer Befragten zum Verhalten der Österreicher*innen in der Krise haben sich im Lauf der Krise stark verändert (siehe Abbildung 1): In drei von vier Kategorien nahm die wahrgenommene Befolgung der behördlichen Verhaltensregeln deutlich ab. Der Mindestabstand von einem Meter wird seltener eingehalten, die Menschen gehen öfter aus dem Haus und sind weniger vorsichtig. Nur die Verwendung der Mund-Nasen-Schutzmasken zeigt eine leicht steigende Tendenz. All dies spiegelt einerseits den Rückgang der wahrgenommenen Gefahren und andererseits den Rückbau der Maßnahmen selbst wider.

Abbildung 1: Einschätzungen zum Verhalten anderer. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project, Welle 3 (N = je zwischen 1432 und 1466) und Welle 7 (N = je zwischen 1433 und 1471), gewichtet.

Besonders stark treten dabei die Angaben zur Selbstisolation und zur Entlastung des Gesundheitssystems durch das Vermeiden von Unfällen hervor. In beiden Kategorien bricht die Beachtung der Verhaltensregeln anderer in der Wahrnehmung unserer Befragten stark ein: Um 40 Prozentpunkte verringerte sich der Anteil jener, die bei „nahezu allen“ oder den „meisten“ anderen einen Rückzug in die häusliche Selbstisolation beobachten. Im Hinblick auf die Minimierung des Verletzungsrisikos fällt der Rückgang in diesen Kategorien mit 20 Prozentpunkte nur halb so groß aus. Der physische Abstand wird nach Einschätzung der Befragten ebenfalls weniger eingehalten als zu Beginn der Krise (-15 Prozentpunkte). Nur das Tragen von Schutzmasken wird nun etwas häufiger wahrgenommen (Steigerung um 2 Prozentpunkte), wobei zu beachten ist, dass diese Verhaltensregel einfach überprüfbar ist: Aufgrund seiner Offensichtlichkeit lässt sich ein Verstoß gegen diese Regel von der Polizei einfach verfolgen und ist außerdem sozialen Sanktionen durch Mitbürger*innen zugänglich. Zudem wurde die Schutzmaskenpflicht in Geschäften erst kurz vor Welle 3 (am 6. April) eingeführt. Die zu Beginn bestehenden Engpässe in der Anzahl der verfügbaren Schutzmasken und die kurzfristige Umstellung könnten hier die wahrgenommene Compliance zusätzlich reduziert haben.

Wie verhalten sich die Befragten selbst?

Während viele Menschen bei anderen beobachten, dass diese sich weniger stark an die Vorgaben halten, wird die eigene Regelbefolgung als höher eingeschätzt. Hier könnte das Phänomen der sozialen Erwünschtheit mitspielen – viele Menschen neigen dazu, in Befragungen jene Antworten zu geben, welche ihrer Meinung nach eher der vermuteten sozialen Norm entsprechen. Die Folge ist eine Verzerrung der Schätzung in Richtung des als „korrekt“ angenommenen Verhaltens. Allerdings sollte dies nur für die absoluten Werte gelten, nicht für die Veränderung. Wie erwartet zeigen sich auch im Vergleich zum wahrgenommen Verhalten anderer sehr ähnliche Veränderungen in der Beschreibung des eigenen Verhaltens, welche ebenfalls die Lockerungen der Maßnahmen in drei der vier Kategorien abbilden (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Einschätzungen zum eigenen Verhalten. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project, Welle 3 (N = je zwischen 1456 und 1480) und Welle 7 (N = je zwischen 1469 und 1479), gewichtet.

Bei der Einhaltung des Mindestabstands gaben die Befragten um 6 Prozentpunkte seltener an, diesen „meistens“ oder „nahezu immer“ einzuhalten. Um 25 Prozentpunkte seltener wählen sie diese Antwortkategorien bei der Einschätzung des Verbleibens in der eigenen Wohnung oder dem Haus. Das Vermeiden von Verletzungen geben nun 16 Prozentpunkte weniger an. Wie schon in der Wahrnehmung des Verhaltens der Bevölkerung allgemein bleiben die Antworten zum Tragen von Schutzmasken auf ähnlichem Niveau (in beiden Wellen je ca. 70% „meistens“ oder „nahezu immer“). Dabei verschoben sich 5 Prozentpunkte von „meistens“ hin zu „nahezu immer“.

Vor allem Frauen halten sich ihren eigenen Angaben zufolge signifikant stärker an alle vier abgefragten Maßnahmen als Männer. Die Existenz von Kindern im Haushalt führt dazu, dass die Abstandsregeln signifikant seltener eingehalten werden. Hier könnte mitspielen, dass Kindern das Bewusstsein für die Maßnahmen oft fehlt, was sich auch auf Eltern oder Aufsichtspersonen auswirkt. Auch das Alter übt Einfluss auf die Einhaltung der Regeln aus (siehe Abbildung 3A): Je älter die Befragten sind, desto eher halten sie sich an die Empfehlungen. Darüber hinaus zeigen sich signifikante Wechselwirkungen zwischen der Einhaltung der Verhaltensregeln und der Zufriedenheit mit der Regierung (siehe Abbildung 3B): Je positiver die Regierungsarbeit eingeschätzt wird, desto stärker orientiert sich das eigene Verhalten an den Vorgaben. Doch die Regierungszufriedenheit korreliert auch mit dem Alter, weshalb letzteres einen vermittelnden Faktor darstellen könnte.

Abbildung 3: A) Zusammenhang zwischen dem Alter und der Einschätzung des eigenen Verhaltens. Korrelationen: Abstand halten: ρ = 0,23***, Verletzungen vermeiden: ρ = 0,11***, zu Hause bleiben: ρ = 0,13***, Maske tragen: ρ = 0,12***. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project, Welle 7 (N = je zwischen 1469 und 1479).

B) Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit und der Einschätzung des eigenen Verhaltens. Korrelationen: Abstand halten: ρ = 0,29***, Verletzungen vermeiden: ρ = 0,23***, zu Hause bleiben: ρ = 0,27***, Maske tragen: ρ = 0,25***. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project, Welle 7 (N = je zwischen 1438 und 1449).

Wie hängen die Einschätzungen zum Verhalten anderer mit dem eigenen Verhalten zusammen?

In allen vier Kategorien – Abstand halten, zu Hause bleiben, Schutzmasken tragen und Verletzungen vermeiden – zeigen sich signifikante positive Korrelationen zwischen dem eigenen Verhalten und den Einschätzungen des Verhaltens der anderen. Je eher also die Einschätzung des Verhaltens anderer den Regeln entspricht, desto eher halten sich auch die Befragten selbst daran. Dabei verstärken sich die Zusammenhänge tendenziell über die Zeit: Bei drei der vier Kategorien waren sie in Welle 3 geringer ausgeprägt als in Welle 7. Die einzige Ausnahme hierbei stellt das Tragen von Masken dar – in diesem Fall blieb der Zusammenhang etwa gleich (siehe Abbildung 4).

Abbildung 4: Zusammenhang zwischen den Einschätzungen zum eigenen Verhalten und jenen zum Verhalten anderer, nach Befragungszeitpunkt. Korrelationen Welle 3: Abstand halten: ρ = 0,27***, Verletzungen vermeiden: ρ = 0,27***, zu Hause bleiben: ρ = 0,22***, Maske tragen: ρ = 0,53***. Korrelationen Welle 7: Abstand halten: ρ = 0,32***, Verletzungen vermeiden: ρ = 0,36***, zu Hause bleiben: ρ = 0,35***, Maske tragen: ρ = 0,52***. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project; Welle 3 (N = je zwischen 1413 und 1458) und Welle 7 (N = je zwischen 1419 und 1456).

Diese Intensivierung des Zusammenhangs zwischen dem wahrgenommenen Verhalten anderer und dem eigenen Verhalten wird auch anhand der Frage deutlich, inwiefern das eigene Verhalten nur dann angepasst werden müsse, wenn andere dies auch täten (siehe Abbildung 5): Während zu Beginn der Krise noch über 65% meinten, dies treffe gar nicht zu, sank dieser Wert bis Mitte Mai auf weniger als 52%.

Abbildung 5: Zustimmung zur Aussage „Solange andere ihr Verhalten nicht ändern, muss ich mein Verhalten bezüglich der Corona-Krise auch nicht ändern“, nach Befragungszeitpunkt. Daten aus dem Austrian Corona Panel Project (N = je zwischen 1448 und 1520), gewichtet.

Wenn die unmittelbare Gefahr nachlässt, werden die Erwartungen bezüglich anderer entscheidend

Zwischen Mitte April und Mitte Mai ist ein deutlicher Abfall in der Einhaltung der von der Regierung verfügten Verhaltensregeln zu beobachten – sowohl in der Wahrnehmung des Verhaltens anderer als auch in der Selbstbeschreibung. Während sich die Menschen zu Beginn der Krise noch stark an die behördlichen Maßnahmen hielten, treten diese Vorgaben inzwischen stärker in den Hintergrund. Stattdessen gewinnen nun andere Handlungsmotivationen wieder an Bedeutung – insbesondere die Orientierung am Verhalten anderer.

In Kombination damit lassen die deutlichen Zusammenhänge der Zufriedenheit mit der Regierungsarbeit und dem eigenen Verhalten vermuten, dass zumindest für Unterstützer*innen der Regierung deren Mitglieder eine gewisse Vorbildfunktion innehaben könnten. Gerade in der Kommunikation der Maßnahmen setzte die Regierung auch bewusst auf solche Vorbildwirkungen, was z.B. durch demonstratives Auftreten mit Maske und durch Pressekonferenzen hinter Plexiglas ersichtlich wird. Werden die Maßnahmen von Seiten der Politik aber nicht eingehalten, könnte dies die Bereitschaft zur Einhaltung der Verhaltensregeln weiter unterminieren.

Verstärkt wird dieser Befund noch dadurch, dass sich deutlichere Zusammenhänge zwischen der Einhaltung der Regeln und der Zufriedenheit mit der Arbeit der Regierung zeigen, als mit dem Alter bestehen – obwohl letzteres einen Indikator für die objektive individuelle Gesundheitsgefahr durch das Coronavirus darstellt.


David W. Schiestl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, Sozialpsychologie und Organisation.

Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.

Bernhard Kittel ist Universitätsprofessor am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien und Vizedekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät.  Seine Forschungsschwerpunkte sind Experimentelle Gerechtigkeitsforschung, Experimentelle Gremien- und Wahlforschung, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktforschung sowie International vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsbeziehungen.