20.05.2021 - PDF
Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat: Corona und alles wird anders?
- Der Beitrag untersucht ob und inwiefern es im Zuge der Pandemie zu Veränderungen zentraler Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat und zu wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen kam.
- Vor der Pandemie (Zeitraum 2017-2019) war die Bekämpfung sozialer Ungleichheit durch den Staat ein zentrales Anliegen in der Bevölkerung (76% Zustimmung [1] ). Weniger populär war der Kampf gegen Arbeitslosigkeit (38%).
- Gespalten zeigte sich die Bevölkerung darüber, ob soziale Unterstützungsmaßnahmen Menschen träge machen (37%) und in der Ansicht darüber, ob weniger wirtschaftliche Eingriffe durch den Staat ergriffen werden sollten (32%).
- Im Zuge der Pandemie gewann die staatliche Bekämpfung von Arbeitslosigkeit deutlich an Popularität (60%).
- Dagegen sank die Zustimmung zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit zunächst leicht, pendelte sich aber danach in etwa auf Vorkrisenniveau ein (71%). Gleiches gilt auch für die Ansichten ob soziale Unterstützungsmaßnahmen Menschen träge machen (34%) und ob die Politik weniger in die Wirtschaft eingreifen sollte (31%).
Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in Krisenzeiten
Die Corona-Krise hat im letzten Jahr zu zahlreichen Veränderungen in fast allen Lebensbereichen geführt: weitreichende Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Schließung von Geschäften und Gastronomie, Home-Schooling und Home-Office, sowie staatliche Investitionen in Milliardenhöhe zur Stützung von Unternehmen und Arbeitnehmer*innen. Viele dieser Maßnahmen waren vor der Pandemie beinahe unvorstellbar. Manche Sozialwissenschaftler, Politiker und Journalisten erwarten nun, dass diese Einschnitte und Veränderungen auch zu einem langfristigen Wandel des Wohlfahrtsstaates führen könnten (siehe etwa: 1, 2, 3, 4, 5). Krisenzeiten wurden dabei in der sozialwissenschaftlichen Literatur immer wieder als Momente genannt, die langanhaltende gesellschaftspolitische Veränderungen verursachen können. Die breite Erfahrung von staatlicher Unterstützung könnte etwa den wahrgenommenen Nutzen von Maßnahmen wie Arbeitslosenunterstützung langfristige erhöhen. Eine prominente Theorie zur Erklärung der Entstehung von Steuerpräferenzen erwartet zudem vor allem dann Veränderungen in den wohlfahrstaatlichen Präferenzen, wenn die Bevölkerung eine staatliche Kompensation der Krisenkosten für gerecht hält. Dabei soll, laut Theorie, die gefühlte Legitimität dieser Kompensationen steigen, wenn bestehende Ungleichheiten durch die Krise verstärkt werden, die Krisenursachen extern sind und die staatliche Maßnahmensetzung ungleiche Konsequenzen der Krise (weiter) verstärkt.
Die Coronakrise scheint die meisten dieser Punkte zu erfüllen. So wirkt die Pandemie als exogener Eingriff in die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Durch den starken Anstieg an Arbeitslosigkeit, insbesondere zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, wurde auch klar, dass Arbeitslosigkeit strukturell bedingt sein kann, was mitunter Wahrnehmungen über negative moralische Konsequenzen von Arbeitslosenunterstützung verringern und damit die Unterstützung entsprechender Maßnahmen fördern könnte. Zudem hat die Rezession auch dazu geführt, dass viele Bürger*innen – mitunter zum ersten Mal – selbst erfahren haben, dass der Staat eingreifen und sie mit Arbeitslosenunterstützung, Kurzarbeit, oder Geldern aus Hilfsfonds unterstützen kann. Während vieles darauf hindeutet, dass die Krise manche bestehenden Ungleichheiten verstärkt hat, zeigen erste Studien, dass sich die Einkommensungleichheit – vermutlich aufgrund zahlreicher staatlicher Hilfsmaßnahmen – in vielen Staaten nicht erhöht hat. Nichtsdestoweniger hat sich aber das Einkommensniveau insgesamt verringert, was insbesondere bei Niedrigverdienenden zu existenzbedrohenden Zuständen führen kann. Insgesamt ergibt sich dadurch ein differenziertes Bild, indem der Staat einerseits durch starke Eingriffe (etwa die sog. „Lockdowns“) indirekt für starke Einkommensverluste sorgte, andererseits durch zahlreiche Hilfsmaßnahmen aber auch einen Teil der Verluste ausgleichen konnte.
Hat die Corona-Krise nun dazu geführt, dass Österreicher*innen ihre Ansichten gegenüber dem Wohlfahrtsstaat geändert haben? In anderen Worten, ist es im Zuge dieser Krise zu einem Wandel der wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen in Österreich gekommen? Ich will diesen Fragen im Folgenden empirisch nachgehen und untersuchen, inwiefern sich Ansichten über die Notwendigkeit wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe zur Reduktion von sozialer Ungleichheit sowie der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit seit der Krise verändert haben. Zudem untersuche ich zentrale Einschätzungen der Bevölkerung über mögliche negative moralische und ökonomische Auswirkungen staatlicher Unterstützungsprogramme.
Die Situation vor der Pandemie
Um festzustellen inwiefern sich wohlfahrtsstaatliche Einstellungen verändert haben, werden zusätzlich zu den ACPP Daten, Umfragedaten aus der AUTNES-Befragung herangezogen. Diese Daten wurden von dem gleichen Umfrageinstitut und im gleichen Befragungsmodus wie Daten des ACPPs erhoben und sind dadurch die wohl besten uns zur Verfügung stehenden Vergleichsdaten, die einen Einblick in die Situation vor der Krise erlauben. Beide Datensätze werden darüber hinaus so gewichtet, dass sie der österreichischen Bevölkerung in wichtigen Kernmerkmalen entsprechen. [2] Um nicht nur einen Eindruck über die Höhe der Zustimmung, sondern auch über die Stabilität solcher Einstellungen vor der Krise zu erhalten, werden alle vier Wellen der AUTNES-Befragungen, die die relevanten Variablen enthalten, für die Analyse herangezogen. Dies soll einen Einblick darüber vermitteln, ob potentiellen Veränderungen seit der Krise über „übliche“ Schwankungen vor der Pandemie hinausgehen.
Abbildung 1 zeigt die durchschnittliche Zustimmung zu den zur Verfügung stehenden wohlfahrtsstaatlichen Variablen vor der COVID-19 Krise, und deutet die statistische Schwankung mit sogenannten Whiskers an. [3] Im Schnitt zeigt sich – trotz der unterschiedlichen Nähe zu politisch wichtigen (und dadurch oft debattenintensiven) Entscheidungen – wenig Veränderung über Zeit. Die stärksten Veränderungen – auf niedrigem Niveau – zeigen sich 2017, wo die Zustimmungen zur staatlichen Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, der Intervention in Wirtschaftsangelegenheit und die Ansicht darüber, dass der Sozialstaat Menschen träge macht, etwas zurückgegangen sind. Diese Werte sind bis September 2019 im Schnitt beinahe unverändert geblieben. Die höchsten Zustimmungswerte erhalten die Aussagen, dass Einkommensunterschiede zu groß sind und die soziale Ungleichheit bekämpft werden soll. Etwas weniger populär ist der Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Gespalten zeigt sich die Bevölkerung in den Meinungen darüber, ob der Sozialstaat Menschen träge macht wie auch bezüglich der Zustimmung zu wirtschaftlichen Interventionen von Seiten des Staates.
Wohlfahrtstaatliche Präferenzen in Zeiten der Pandemie
Wie hat sich dieses Bild mit der Pandemie verändert? Ein Blick auf Abbildung 2 zeigt, dass lediglich die Zustimmung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vergleich zu den Werten vor der Pandemie gestiegen ist. Dieser Anstieg manifestiert sich jedoch relativ deutlich: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nun fast so populär wie die Bekämpfung sozialer Ungleichheit. Einstellungen bezüglich der Bekämpfung von Einkommensungleichheit und sozialer Ungleichheit haben sich zunächst leicht verringert, bleiben im Großen und Ganzen aber relativ stabil auf Vorkrisenniveau. Dies trifft, auch auf die Ansichten zu, dass der Sozialstaat Menschen träge macht und die Politik sich aus der Wirtschaft heraushalten sollte. Mit Ausnahme der gestiegenen Relevanz der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zeigt sich damit wenig Veränderung innerhalb der Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat und den Wahrnehmungen der moralischen Auswirkungen staatlicher Unterstützungen.
Conclusio
Insgesamt zeigt sich, dass in Österreich die Ansichten zur Einkommensungleichheit und der sozialen Ungleichheit und dessen Bekämpfung zentrale Grundpfeiler der Legitimität des Wohlfahrstaates bleiben und eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung genießen. Während die meisten Einstellungen im Laufe der Pandemie unverändert blieben, gewann die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit deutlich an Popularität, aber hat dabei nicht die Bekämpfung der Einkommens- und sozialen Ungleichheiten als dominante Kernthemen abgelöst. Mitunter trägt die österreichische Bevölkerung hier auch der veränderten realen Situation in Österreich Rechnung, da insbesondere die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein zentraler Kern der Unterstützungsprogramme im Zuge der Pandemie war und auch viele selbst von diesen Unterstützungen profitiert haben.
Die Krise hat aber keinesfalls zu einer generellen „Revolution“ der Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat geführt. Insbesondere Einstellungen zu den klassischen Debatten über die Auswirkungen wohlfahrtsstaatlicher Hilfen und das richtige Ausmaß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft bleiben im Schnitt weitestgehend unverändert. Politische Angebote, „Elite Cues“ und mediale Debatten in den Folgejahren der Pandemie könnten sich jedoch, wie bereits in früheren Krisen, als zentrale Faktoren für einen möglichen politischen Wandel erweisen. Die Resultate könnten aber auch darauf hindeuten, dass sich womöglich auch in dieser Krise das enorme Beharrungsvermögen des gesellschaftspolitischen Status quo bewahrheitet hat. Auch wenn während der Pandemie kein gewohnter Stein auf dem anderen zu bleiben schien haben sich viele Einstellungen zur Rolle des Wohlfahrtsstaates im Schnitt kaum verändert.
Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.
Fußnoten
[1] Zur Berechnung der Zustimmung wurden die Anteile der Antworten „Trifft sehr zu“ und „Trifft zu“ zusammengezählt. Dabei wurde für den Vor-Corona-Wert die Daten der AUTNES-Welle im September 2019 gewählt und für den Nach-Corona Wert die aktuellsten ACPP-Daten vom Februar 2020. Siehe für alle Anteilswerte Abbildung 1 im Appendix. Die genaue Frageformulierung befindet sich ebenfalls im Appendix.
[2] Trotz dieser Versuche möglichst vergleichbare Daten zu beziehen, muss beachtet werden, dass es sich nicht um völlig gleiche Stichproben und Umfragen handelt, und dass demnach auch der Fragekontext anders ist. Bei Fragebögen kommt es immer auch zu Einflüssen von Fragen auf Folgefragen, diese könnten zu Antwortverzerrungen (sog. „biases“) führen.
[3] Die genaue Frageformulierung befindet sich im Anhang. Im Anhang wurde zusätzlich auch eine Abbildung mit den Anteilswerten der einzelnen Antwortkategorien angehängt. Darin ist ersichtlich, dass die Durchschnittswerte keine potentiellen Polarisierungen in diesem Zeitraum verschleiern.
Appendix
Frageformulierung:
1. Man kann zu verschiedenen politischen Themen unterschiedliche Meinungen haben. Treffen die folgenden Aussagen Ihrer Meinung nach sehr zu, eher zu, teils-teils zu, treffen sie eher nicht zu oder treffen sie überhaupt nicht zu? (Matrix-Frage, randomisierte Antwort-Items)
a) Die Politik muss die soziale Ungleichheit bekämpfen.
b) Der Sozialstaat macht Menschen träge und faul.
c) Die Arbeitslosigkeit muss bekämpft werden, auch wenn das hohe Staatsschulden bedeutet.
d) Die Politik soll sich aus der Wirtschaft heraushalten.
e) Die Einkommensunterschiede in Österreich sind zu groß.