10.12.2020 - PDF

Wos is heit für a Tog? Wochentagsamnesie in Zeiten der Corona-Krise

  • In der Anfangsphase der Pandemie gaben rund ein Drittel der Befragten an, dass sie manchmal vergaßen, welcher Wochentag es war. Im Laufe der Zeit und mit zunehmender Lockerung der Corona-Maßnahmen kam dies seltener vor.
  • Während es keinen Unterschied zwischen normal Erwerbstätigen und Personen im Home-Office gab, waren Schüler*innen/Studierende, Arbeitslose und Erwerbstätige in Kurzarbeit in besonderem Ausmaß von diesem Phänomen betroffen.

Von Jakob-Moritz Eberl, Julia Partheymüller, David W. Schiestl und Noëlle S. Lebernegg

“Wos is heit für a Tog?”  lautet der Titel eines bekannten Volksliedes. Doch ob nun Mittwoch und daher “Strudltog” oder doch Donnerstag und daher “Fleischtog” sei, war in den letzten Monaten für viele nicht nur eine Frage der Kulinarik. Vor allem in den Anfangswochen der Corona-Pandemie empfanden viele Menschen plötzlich einen Verlust der gefühlten Zeitstruktur. Eine britische Studie zeigte zum Beispiel, dass für manche Befragte die Zeit während der Pandemie langsamer verging, für andere wiederum schneller. Viele berichteten jedenfalls über ein verändertes Zeitempfinden. Staatliche Maßnahmen wie die massiven Einschränkungen der Freizeitaktivitäten, das verordnete Home-Office, Kurzarbeit sowie die Schließung von Bildungseinrichtungen stellten den gewohnten Arbeits- und Lebensrhythmus vieler Menschen auf den Kopf und könnten somit ihren Beitrag zu diesem Phänomen geleistet haben.

Aber wie lange dauerte dieses veränderte Zeitgefühl eigentlich an und welche Bevölkerungsgruppen waren davon in Österreich besonders betroffen? Der vorliegende Beitrag untersucht die vermeintliche Wochentagsamnesie in der Corona-Krise anhand der Zustimmung zur Aussage “Ich vergesse manchmal, welcher Wochentag ist”. Wir beleuchten dazu die Entwicklung im Zeitverlauf sowie die Unterschiede in verschiedenen Erwerbsgruppen.

Verlust der Zeitstruktur in der Frühphase der Krise

Als in der Frühphase der Corona-Krise das öffentliche Leben drastisch heruntergefahren wurde, ging dies für viele Menschen mit einem Verlust ihrer gewohnten Routinen einher. Der Anteil der Personen, die vergaßen, welcher Wochentag ist, war in dieser Zeit besonders hoch (siehe Abbildung 1). Rund 33 Prozent der Befragten gaben Ende März und Anfang April an, dass sie manchmal den Wochentag vergessen (= “Trifft eher zu” & “Trifft voll und ganz zu”). Im Zeitverlauf, als sich das öffentliche Leben durch die Rücknahme von Maßnahmen wieder (vorläufig) normalisierte, ging dieser Anteil deutlich zurück. Im Oktober waren es nur noch 12 Prozent. 

Abbildung 1: Wochentagsamnesie im Zeitverlauf (ACPP Daten, gewichtet)

Schüler*innen und Studierende waren besonders stark betroffen

Abbildung 2 vergleicht die Situation im April und Oktober für verschiedene Erwerbsgruppen. Es zeigt sich, dass in allen Gruppen der Verlust des Zeitgefühls im April auf hohem Niveau lag. Besonders stark aus der Bahn geworfen wurden dabei aber anscheinend Schüler*innen und Studierende. In dieser Gruppe lag der Anteil derer, die den Wochentag vergaßen, im April bei 61 Prozent. Der Vergleichswert im Oktober lag für die Schüler*innen und Studierenden bei 25 Prozent.

Abbildung 2: Wochentagsamnesie nach Erwerbssituation (ACPP Daten, 3.-8. April; 16.-23.Oktober; gewichtet)

Interessanterweise war die Gruppe der Personen im Home-Office nicht in besonderem Maße von einem Verlust der gefühlten Zeitstruktur betroffen. Sie unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von jenen, die vergleichsweise normal ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen konnten. Beide Gruppen lagen im April bei etwa 30 Prozent und im Oktober bei etwa 10 Prozent. Stärker betroffen waren jedoch Personen in Kurzarbeit. Vor allem lag hier der Wert im Oktober mit 21 Prozent deutlich über jenem der anderen Erwerbstätigen. Auch Arbeitslose litten sowohl im April (40%) als auch im Oktober (30%) stärker unter diesem Phänomen. Allen Vorurteilen über Vergesslichkeit zum Trotz entpuppten sich Pensionist*innen in unseren Analysen als die durchwegs am wenigsten betroffene Gruppe.

Wochentagsamnesie – ein ernstzunehmendes Symptom

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Verlust der gefühlten Zeitstruktur auch in Österreich und vor allem während der Anfangsphase der Pandemie ein verbreitetes Phänomen war. Deutlich stärker davon betroffen waren Schüler*innen und Studierende, gefolgt von Arbeitslosen und Personen in Kurzarbeit. Dies deutet darauf hin, dass besonders ein unerwarteter bzw. ungewohnter Strukturverlust – der Ausfall geläufiger Arbeits- oder Lernzeiten – mit dem Phänomen des Vergessens des Wochentages einhergeht. Die eingeschränkte Freizeitgestaltung könnte dies noch verstärken. Da der Anteil der von der Wochentagsamnesie Betroffenen im Laufe der Zeit – parallel mit der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen – abnimmt, ist also davon auszugehen, dass mit der Wiedereinführung strengerer Maßnahmen und abermaliger Einschränkungen im Freizeitbereich auch wieder ein verändertes Zeitempfinden vermehrt auftreten kann. 

Diese scheinbar harmlose Beobachtung könnte einen durchaus ernstzunehmenden Kern haben. Zum Beispiel wird schon in Beschreibungen aus der Studie der “Arbeitslosen von Marienthal” festgehalten, dass der Verlust gefühlter Zeitstruktur auf Dauer oft mit Gefühlen der Passivität und Resignation einher geht. So muss die Wochentagsamnesie auch als ein Indikator für die psychische Gesundheit der Bevölkerung gesehen werden und als eines von vielzähligen Symptomen der gesamtgesellschaftlichen Belastungsprobe, die diese Pandemie darstellt und manche Bevölkerungsgruppen stärker trifft als andere.


Jakob-Moritz Eberl ist seit April 2017 Projektmitarbeiter (Post-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und seit 2013 Mitglied der österreichischen Nationalen Wahlstudie (AUTNES, Media Side). Er ist außerdem assoziierter Wissenschafter im Vienna Center for Electoral Research (VieCER) und beschäftigt sich unter anderem mit Fragen zu Medienwirkung, Medienvertrauen und Wahlverhalten.

Julia Partheymüller arbeitet als Senior Scientist am Vienna Center for Electoral Research (VieCER) der Universität Wien und ist Mitglied des Projektteams der Austrian National Election Study (AUTNES). Sie promovierte in Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim und studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Universität Hamburg.

David W. Schiestl ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter (Prae-Doc) am Institut für Wirtschaftssoziologie tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, Organisation und Sozialpsychologie.

Noelle S. Lebernegg ist Universitätsassistentin (Prae-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie assoziierte Wissenschafterin im Vienna Center For Electoral Research (VieCER). Sie beschäftigt sich mit den Auswirkungen politischer Kommunikation und Medien auf die öffentliche Meinung und Wahlverhalten.