02.03.2021 - PDF
Wie weit reicht die Solidarität in der Corona-Krise?
- Das Ausmaß und Muster geäußerter Solidarität mit Personengruppen ist ähnlich zu 2018.
- Globale Solidarität wuchs geringfügig, Solidarität mit vulnerablen Gruppen nahm etwas ab.
- Geringere Bereitschaft, die Eindämmungsmaßnahmen mitzutragen, spiegelt sich in geringerer geäußerter Solidarität wider.
Von Julian Aichholzer & Patrick Rohs
Während der COVID-19-Pandemie wird von verschiedensten Seiten eingefordert, solidarisch zu sein und zusammenzustehen. Frühere Beiträge haben jedoch attestiert, dass die österreichische Bevölkerung über die Corona-Krise hinweg eine abnehmende Solidarität wahrnimmt, bspw. in Bezug auf Rücksichtnahme auf Schwächere in der Gesellschaft. Auch die allgemein wahrgenommene Befolgung der Maßnahmen, wahrgenommene Normkonformität oder die eigene Einhaltung von Präventionsmaßnahmen scheinen im Verlauf der Pandemie tendenziell abzunehmen.
Sich kümmern um andere?
Weniger klar ist hingegen, ob etwa der Kreis an Personen und Gruppen, mit denen sich Menschen solidarisch fühlen, ihr „Solidaritätsradius“, z.B. geschrumpft ist. Dieses als Makrosolidarität bezeichnete Gefühl des „Sich-Kümmerns um andere Gruppen“ wurde u.a. in der Europäischen Wertestudie (EVS) mit der Frage „Wie viel liegt Ihnen an den Lebensbedingungen von ...?“ erhoben. Dieselbe Frage wurde den Befragten des Austrian Corona Panel Projects (ACPP) vorgelegt und erlaubt daher Vergleiche zur EVS 2018, also vor der COVID-19-Pandemie (s. Abbildung 1).[1] Unterschieden wurden vulnerable Personengruppen (soziale Dimension) sowie Menschen eines bestimmten geografischen Raumes (lokale und globale Dimension).
Globale Solidarität geringfügig höher, Solidarität mit vulnerablen Gruppen geringer
Grundsätzlich fällt auf, dass Veränderungen im Ausmaß der Solidarität bei den meisten abgefragten Gruppen zwischen 2018 (EVS) und 2021 (ACPP) gering ausfallen. Ältere Menschen, Kranke und Behinderte, Menschen in der Nachbarschaft, der Region und im eigenen Land können mit hoher Solidarität ihrer Mitbürger*innen rechnen (jeweils mehr als 2/3 der Befragten gaben an, dass ihnen „sehr viel“ bzw. „viel“ an den Lebensbedingungen dieser Gruppen liege). Hingegen fühlt sich nur etwa jede*r zweite Befragte mit Europäer*innen, Menschen auf der ganzen Welt sowie Arbeitslosen solidarisch. Zuwander*innen liegen sowohl 2018 als auch 2021 an letzter Stelle (ca. 1/3 der Befragten).
Auffallend ist die im Vergleich zu 2018 gestiegene Solidarität mit Arbeitslosen (+4%), was möglicherweise der gleichzeitigen ökonomischen Krise und akut hoher Arbeitslosigkeit geschuldet ist, sowie mit Europäer*innen (+6%) und Menschen auf der ganzen Welt (+9%). Das heißt, die globale Solidarität wuchs geringfügig, wenngleich jene gegenüber Zuwander*innen unverändert bleibt. Tendenziell schwächer gegenüber der Erhebung 2018 ist schließlich die Solidarität mit Älteren (-8%) sowie Kranken und Behinderten (-7%). Dies scheint insofern bedenklich, da besonders vulnerable Gruppen einer COVID-19-Infektion und damit schützenswerte Gruppen angesprochen werden.
Solidarität spiegelt sich im (Nicht-)Mittragen der Corona-Maßnahmen wider
Hinter der—im Vergleich zu anderen Gruppen—momentan geringeren Solidarität mit Älteren sowie Kranken und Behinderten könnte sich eine gewisse Müdigkeit oder „Abnützungserscheinung“ im Pandemieverlauf verbergen. Das heißt, jene, die sich durch Maßnahmen besonders benachteiligt oder eingeschränkt fühlen, könnten der Forderung, sich solidarisch zu zeigen, immer weniger nachkommen.
Eine Detailanalyse der ACPP-Daten über die Intention zur Verhaltensänderung in der Corona-Krise zeigt jedenfalls, dass eine geringere Bereitschaft, die Eindämmungsmaßnahmen mitzutragen und das individuelle Verhalten zu ändern, mit geringerer geäußerter Solidarität gegenüber allen Personengruppen korreliert ist—selbst im lokalen Umfeld (s. Abbildung 2). Dies ist insofern interessant, da sich andere individuelle Merkmale, wie politische Orientierung, meist nur in einem bestimmten Feld von Solidarität niederschlagen (z.B. globale Solidarität).[1]
Fazit
Während sich das Ausmaß lokaler Solidarität (Nachbarschaft, Region, Landsleute) in der Corona-Krise im Vergleich zu 2018 ähnlich darstellt, hat das Gefühl des „Sich-Kümmern-Um“ mit Arbeitslosen zugenommen, jenes mit vulnerablen Gruppen etwas abgenommen. Letzteren möglichen Trend gilt es im Zuge der fortdauernden COVID-19-Pandemie im Auge zu behalten, so die Bevölkerung Gefahr laufen könnte, sich zunehmend zu entsolidarisieren und stärker Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen. Nicht zuletzt das Thema Verteilung von Impfungen und Streitfragen zu zukünftigen Strategien im Umgang mit dem Coronavirus (weitgehend öffnen vs. Maßnahmen verschärfen) werden daher vermutlich weiter die Debatte prägen.
Literatur:
[1] vgl. Aichholzer, J. (2019). Diversität und Solidarität. In J. Aichholzer, C. Friesl, S. Hajdinjak, & S. Kritzinger (Eds.), Quo Vadis Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018 (S. 174-205). Wien: Czernin Verlag.
Julian Aichholzer ist Universitätsassistent (Post-Doc) am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien und im Austrian Corona Panel Project, der Austrian National Election Study sowie dem Forschungsverbund Interdisziplinäre Werteforschung assoziert.
Patrick Rohs ist Universitätsassistent (Prae-Doc) am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien und ist Mitglied des Forschungsverbunds Interdisziplinäre Werteforschung.