Zurück zu den Grünen?
- Bei der Nationalratswahl 2017 verloren die Grünen viele Wähler*innen an SPÖ und Liste Pilz, von denen sie jedoch bei der Neuwahl 2019 gemäß dem Wahlmotto „Zurück zu den Grünen“ viele wieder zurückgewinnen wollten und konnten.
- Der neue Spitzenkandidat Werner Kogler konnte viele Wähler*innen überzeugen, (zurück) zu den Grünen zu wandern.
- Zurück zu den Grünen kamen außerdem vor allem jene Wähler*innen, die das Klimathema 2019 wichtiger als 2017 fanden.
Von Christina Gahn und Julia Partheymüller
Dass Wahlerfolg und -niederlage oft nah beieinander liegen können, lässt sich am Schicksal der österreichischen Grünen gut illustrieren. Wir erinnern uns an das Wahljahr 2017: Im Schatten der “Flüchtlingskrise” 2015 dominiert das Migrationsthema den Wahlkampf. Innerparteiliche Konflikte bei den Grünen führen zum Ausschluss der Jugendorganisation, zum Wechsel an der Parteispitze von Eva Glawischnig zu Ingrid Felipe als Parteiobfrau und der Wahl von Ulrike Lunacek als Spitzenkandidatin. Der langjährige Parlamentarier Peter Pilz, beim Parteikongress im Juni nicht auf einen sicheren Listenplatz gewählt, verlässt daraufhin die Partei und gründet eine eigene Liste. Das für viele enttäuschende Wahlergebnis von 3,8% verhindert schließlich den Einzug der Grünen ins Parlament, während die Liste Pilz mit 4,4% neu ins Parlament einzieht (Bodlos et al. 2018).
Ein Sprung ins Wahljahr 2019: Das Klimathema dominiert in diesem Jahr die Themenagenda und es kommt in Folge der Ibiza-Enthüllungen im Vorfeld der Europawahl 2019 zu vorgezogenen Neuwahlen. Mit dem neuen Spitzenkandidaten Werner Kogler unter dem Wahlmotto „zurück zu den Grünen“ können die Grünen ihr Comeback zunächst bei der Europawahl und dann beim Wiedereinzug in den Nationalrat mit ihrem historisch besten Wahlergebnis (13,9%) feiern und gelangen nach monatelangen Koalitionsverhandlungen sogar in Regierungsverantwortung.
Plescia und Aichholzer (2018) analysierten in einem anderen Blogbeitrag die Gründe der Abwanderung von den Grünen 2017. Doch kehrten wirklich dieselben Wähler*innen, die 2017 abhandengekommen waren, 2019 zurück? Und wenn ja, aus welchen Gründen kamen sie 2019 wieder zurück? Diese Fragen sind Thema des heutigen Blog-Beitrages.
Wähler*innen-Ströme von und zu den Grünen, 2013–2019
Weiterführend von unserem letzten Blog-Beitrag (Partheymüller et al. 2020), der alle Wähler*innen-Wanderungen in Österreich zwischen den Nationalratswahlen 2013, 2017 und 2019 analysierte, konzentrieren wir uns also nun spezifischer auf die Wanderungen von und zu den Grünen zwischen den genannten Wahlen. Mithilfe der Daten der AUTNES Online Panel Study (Aichholzer et al., 2020) kann die Dynamik des Wählens auf individueller Ebene sehr genau nachvollzogen werden.[1]
Abbildung 2 zeigt die Wähler*innen-Ströme zwischen der Nationalratswahl 2013 und 2017 sowie zwischen 2017 und 2019. Im Gegensatz zum letzten Blog-Beitrag, sind in dieser Abbildung die wichtigsten Ströme von und zu den Grünen hervorgehoben. Man sieht, dass die Grünen bei der Nationalratswahl 2017 viele ehemalige Wähler*innen an andere Parteien – allen voran an die SPÖ und an die Liste Pilz – verloren. Ein kleinerer Teil wanderte zur ÖVP, zur NEOS oder wählte nicht mehr. Das Motto der Grünen-Kampagne 2019 lautete nun also „zurück zu den Grünen” (siehe Abbildung 1). Ein Motto, das erfolgreich war: Es kam zu einer starken Rückwanderung von der SPÖ zu den Grünen. Zudem kehrten auch von der Liste Pilz (ab 2019 JETZT) einige Wähler*innen zu den Grünen zurück. Im Ergebnis konnten die Grünen bei der Nationalratswahl 2019 den Wiedereinzug in den Nationalratswahl mit dem besten Wahlergebnis ihrer Geschichte feiern.
Wie setzten sich die 2019er-Grünen-Wähler*innen zusammen? In Abbildung 3 bilden die Balken nun in einem anderen Format die Grünen Wähler*innen-Zuströme zwischen 2017 und 2019 ab. Die Breite der Balken spiegelt den Anteil aller Grünwähler*innen 2019 wider (siehe Beschriftung der Balken, links). 22.4% der 2019er Grünwähler*innen wählte gleichbleibend bei beiden Wahlen die Grünen. Die Mobilisierung von Nicht-Wähler*innen spielte insgesamt die geringste Rolle, mit einem Anteil von 10,2%. Der größte Anteil (35%) der 2019er Wähler*innen hat dagegen 2017 die SPÖ gewählt; zudem wählten 11,9% zuvor die Liste Pilz. Nicht bei jedem dieser Zuwander*innen muss es sich jedoch auch um Rückwander*innen handeln, da die Partei naturgemäß auch fluide Wähler*innen in diesen Parteien hinzugewinnen kann, die zuvor nicht grün gewählt haben.
Wirklich zurück zu den Grünen?
Um näher zu beleuchten, inwiefern Wähler*innen tatsächlich zurück zu den Grünen gekommen sind, differenzieren wir in innerhalb dieser Gruppen zwischen Wähler*innen, die bereits 2013 grün wählten und solchen, die dies nicht taten. Im linken Graphen von Abbildung 3 sieht man, dass rund 58% der Personen, die von der SPÖ zu den Grünen gewandert sind, 2013 bereits die Grünen gewählt haben. Ein noch höherer Anteil zeigt sich bei Wähler*innen der Liste Pilz 2017 (65%). Diese Wähler*innen-Ströme belegen, dass tatsächlich viele Personen, die 2013 noch Grün gewählt haben, sich 2017 für die SPÖ oder Liste Pilz entschieden haben, 2019 zurück zu den Grünen gekommen sind. Hier spielen sicher verschiedene Faktoren eine Rolle; wir möchten uns im Folgenden die Kandidat*innen und Themen-Wichtigkeit genauer ansehen.
Die Rolle der Spitzenkandidat*innen
Die Zeit vor dem Wahlkampf 2017 brachte viele Personalveränderungen und interne Streitigkeiten im linken Spektrum mit sich: Im Mai 2016 übernahm Christian Kern die Spitzenkandidatur für die SPÖ und Ulrike Lunacek für die Grünen, woraufhin sich im Juli 2017 Peter Pilz mit seiner eigenen Liste von den Grünen abspaltete (Plescia et al. 2020). Aufgrund des schlechten Abschneidens bei der Nationalratswahl 2017 und persönlichen Gründen übernahmen 2018 Werner Kogler die Grünen und Pamela Rendi-Wagner die SPÖ. Im letzten Blog-Beitrag (Partheymüller et al. 2020) konnte man sehen, dass Pamela Rendi-Wagner durchschnittlich als unsympathischer als Christian Kern und Ulrike Lunacek als unsympathischer als Werner Kogler eingeschätzt wurde. Auch Peter Pilz büßte nach diversen Skandalen und Sexismus-Vorwürfen von 2017 bis 2019 stark an Sympathie ein.
Diese Kandidat*innenwechsel und Sympathieunterschiede könnten Erklärungsfaktoren für die Wähler*innen-Zuwanderung 2019 sein. Und tatsächlich zeigt sich im mittleren Graphen in Abbildung 3, dass Werner Kogler im Vergleich zu Ulrike Lunacek vor allem von jenen Gruppen als sympathischer wahrgenommen wurde, die 2017 noch die SPÖ, die Liste Peter Pilz, andere Parteien oder keine Parteien gewählt haben. Die kleine Gruppe, die sowohl 2017 als auch 2019 die Grünen gewählt hat, fand Ulrike Lunacek häufiger gleich sympathisch oder sogar sympathischer als Werner Kogler. Hier zeigt sich ein großer Vorteil der Grünen 2019: Werner Kogler konnte im Gegensatz zu anderen linken Spitzenkandidat*innen viele neue und ehemalige Grünwähler*innen überzeugen.
Die Rolle der politischen Themen
Ein anderer wichtiger Grund, warum die Grünen 2019 einen Aufschwung erlebt haben könnten, ist die Themenkonjunktur des Umwelt- und Klimathemas im Wahlkampf 2019 verglichen zum Wahlkampf 2017 (siehe Blog-Beitrag von Partheymüller et al. 2020 und genauer auch Eberl et al. 2020). Dies zeigt sich auch in unserer Analyse: Ausgenommen von jener Gruppe, die 2017 nicht gewählt hat, finden fast gar keine Grünwähler*innen 2019, dass das Klima-Thema unwichtiger geworden ist. Allerdings gibt es Unterschiede darin, ob das Thema als gleich wichtig oder als noch wichtiger erachtet wird. Im Vergleich zu den Wählern*innen, die bei beiden Wahlen Grün gewählt haben (37%), geben in jenen Wähler*innen-Strömen, die 2017 noch die SPÖ, Pilz oder andere Parteien gewählt haben, deutlich (48% bis 60%) mehr Personen an, dass das Klimathema wichtiger geworden ist. Daraus lässt sich das Fazit ziehen, dass obwohl das Klimathema für die meisten Grünwähler*innen grundsätzlich wichtig ist, besonders jene zurück zu den Grünen kamen, die es 2019 als wichtiger als 2017 wahrnahmen. Viele, die das Thema als gleich wichtig wie 2017 erachten, sind schon 2017 bei den Grünen geblieben.
Fazit
Insgesamt zeigen die Analysen, dass die Grünen ganz nach ihrem Wahlmotto „Zurück zu den Grünen“ tatsächlich viele vormalige Wähler*innen bei der Wahl 2019 wieder für sich gewinnen konnten, die sie 2017 verloren haben. Wichtige Triebkräfte hinter den Wähler*innen-Wanderungen waren vor allem der Wechsel der Spitzenkandidat*innen im linken Lager und das Aufkommen des Klimathemas. Eine Kombination dieser beiden Faktoren konnte schließlich den Wiedereinzug ins Parlament und damit auch die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung sicherstellen.
Christina Gahn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor studierte sie Politikwissenschaft an der Universität Wien und war dort Studienassistentin am Institut für Staatswissenschaft und Teil der Austrian National Election Study (AUTNES).
Julia Partheymüller arbeitet als Senior Scientist am Vienna Center for Electoral Research (VieCER) der Universität Wien und ist Mitglied des Projektteams der Austrian National Election Study (AUTNES). Sie promovierte in Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim und studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Universität Hamburg.
Fußnoten
[1] Im Rahmen der AUTNES Online Panel Study 2017–2019 wurde eine Stichprobe von ca. 3000 Wahlberechtigten jeweils mehrfach in der Vorwahlzeit sowie nach den Nationalratswahlen 2017 und 2019 online befragt. Die Angaben zum Wahlverhalten basieren in der Regel auf dem rückerinnerten Wahlverhalten, das in der Befragung gemessen wurde, die unmittelbar nach der Wahl durchgeführt wurde. Im Fall der Nationalratswahl 2013 basieren die Angaben ebenfalls auch auf einer Rückerinnerungsfrage, wobei die Wahl bereits weiter in der Vergangenheit zurücklag. Auch für Personen, die im Rahmen einer Auffrischung (z.B. Anfang 2019) erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Befragung gelangten, verwenden wir die Rückererinnerungsfrage jeweils für das Wahlverhalten bei der vorherigen Nationalratswahl (z.B. 2017), auch wenn diese Wahl dann schon etwas weiter zurücklag. Auf diese Weise können wir die Anzahl der Personen mit vollständigen persönlichen Angaben zum Wahlverhalten 2013, 2017 und 2019 maximieren und die Entwicklung ihres Wahlverhaltens auf individueller Ebene nachzeichnen.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich das methodische Vorgehen von den SORA-Wähler*innenstromanalysen (NR-Wahl 2019, NR-Wahl 2017), die auf den berichteten Wahlergebnissen beruhen (siehe zur Methodik auch den Standard-Blog-Beitrag von Laurenz Ennser-Jedenastik). Zur wechselseitigen Validierung haben wir unsere Ergebnisse, die mit der Panelmethode ermittelt wurden, mit jenen des SORA-Instituts für die Nationalratswahl 2019 verglichen. Diese Analysen zeigen eine insgesamt sehr hohe Übereinstimmung der Werte mit der Wähler*innenstromanalyse des SORA-Instituts (Korrelation über alle Zufluss-/Abflusswerte: 0.97). Die konvergenten Ergebnisse deuten auf eine hohe Validität der Ergebnisse hin.
Literatur
Aichholzer, Julian, Julia Partheymüller, Markus Wagner, Sylvia Kritzinger, Carolina Plescia, Jakob-Moritz Eberl, Thomas Meyer, Nicolai Berk, Nico Büttner, Hajo Boomgaarden and Wolfgang C. Müller (2020). AUTNES Online Panel Study 2017–2019. Vienna: AUSSDA (doi: https://doi.org/10.11587/QDETRI).
Bodlos, Anita, Laurenz Ennser-Jedenastik, Martin Haselmayer, Thomas M. Meyer & Wolfgang C. Müller (2018). The Austrian election of 2017: An election won in the long campaign 2017. In: Laffan, B. & Cicchi, L. (Eds.): Europe's Bumper Year of Elections, European University Institute. 151-172.
Eberl, Jakob-Moritz , Lena Maria Huber & Carolina Plescia (2020). A tale of firsts: the 2019 Austrian snap election. West European Politics. 43:6. 1350-1363.
Partheymüller, Julia; Christina Gahn, Julian Aichholzer, Verena Reidinger & Lena M. Huber (2020). Wähler*innen-Wanderungen in Österreich: Ein Rückblick. VieCER-Blog vom 24.7.2020: bit.ly/viecer-blog20200724.
Plescia, Carolina; Sylvia Kritzinger & Jakob-Moritz Eberl (2020). ‘The enemy within’: Campaign attention and motivated reasoning in voter perceptions of intra-party conflict. Party Politics. Onlinefirst. 1-11.