15.12.2021 - PDF
Was tun, wenn die Intensivstationen voll sind? Das Szenario einer Triage in der “Vierten Welle”
- Die Zustimmung bzw. Ablehnung zu bestimmten Kriterien für eine intensivmedizinische Triage im November/Dezember 2021 hat sich in Österreich im Vergleich zum November 2020 wenig verändert.
- Nach wie vor ist Priorisierung nach “Schwere der Erkrankung” das Kriterium, das am meisten Zustimmung findet. Danach folgen die Kriterien “Menschen, die das gesellschaftliche System aufrechterhalten” und “Patient*innen mit den besten Heilungschancen”.
- Die Priorisierung von geimpften Personen steht bei den zehn Kriterien an fünfter Stelle.
- “Menschen, die mehr in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen” und “Privatversicherte”, werden noch immer überwiegend abgelehnt.
Von Thomas Resch
Vor etwas über einem Jahr wurden die Teilnehmer*innen des Austrian Corona Panel Project (ACPP) befragt, welche Kriterien zur Priorisierung an österreichischen Intensivstationen sie befürworten und welche sie ablehnen. Die zentralen Ergebnisse dieser Befragung Mitte November 2020, während der “Zweiten Welle”, sahen so aus:
Die Menschen in Österreich sind sich relativ einig, dass die Kränkesten bei der Zuteilung von Intensivbetten präferiert werden sollen.
Eine Bevorzugung von Privatversicherten und von Menschen, die viele Steuern in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen, wird von fast allen Bevölkerungsgruppen abgelehnt.
Präferierte Behandlungen von Personen, die das Gesundheitssystem aufrechterhalten, und von Menschen mit Betreuungspflichten erhalten Zustimmung.
Inmitten der sogenannten “Vierten Welle” der Corona-Pandemie in Österreich, Ende November bzw. Anfang Dezember 2021, wurden die Einstellungen der österreichischen Bevölkerung zu einer intensivmedizinischen Triage nun erneut abgefragt. Außerdem wurde diesmal zusätzlich gefragt, inwiefern geimpfte Personen bevorzugt behandelt werden sollen. Die Zustimmung oder Ablehnung dieses Kriteriums wurde anhand der Aussage “Menschen, die geimpft sind, sollten zuerst behandelt werden” gemessen.
Die anderen Prinzipien bzw. Kriterien der Priorisierung für eine intensivmedizinische Triage, die Ende November/Anfang Dezember 2021 in der ACPP-Umfrage standen, lauteten auf die Frage “Nehmen Sie an es würde durch die Corona-Krise zu Engpässen in der medizinischen Versorgung von Intensivpatienten, die an Corona oder etwas anderem erkrankt sind, kommen. Wie sehr stimmen Sie mit den folgenden Aussagen zur Behandlung überein?”
Menschen, die schwer erkrankt sind, sollten zuerst behandelt werden.
Menschen mit größeren Heilungschancen sollten zuerst behandelt werden.
Menschen, die die medizinische Versorgung unserer Gesellschaft aufrechterhalten, sollten zuerst behandelt werden.
Menschen, die mehr in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen, sollten zuerst behandelt werden.
Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft sollten zuerst behandelt werden.
Menschen, die privat versichert sind, sollten zuerst behandelt werden.
Menschen, die Kinder oder Familienmitglieder betreuen, sollten zuerst behandelt werden.
Junge Menschen sollten zuerst behandelt werden.
Es soll zufällig entschieden werden, wer zuerst behandelt wird.
Dabei ging es nicht ausschließlich um eine Triage unter Corona-Intensivpatient*innen sondern um Intensivpatient*innen allgemein, also etwa auch um Menschen, die einen schweren Autounfall, Herzinfarkt oder ähnliches erlitten. Die Abwägungen bei einer solchen Triage, also bei Engpässen in der Intensivmedizin, sind schwierige ethische Entscheidungen, für die in der Theorie zahlreiche Richtlinien und Überlegungen existieren. Diese sind dabei nicht ganz unumstritten, denn manche Expert*innen legen mehr Wert auf nutzenmaximierende Kriterien [1] und andere etwa auf Chancengleichheit. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen jedoch die gesellschaftliche Präferenzen abseits der Expert*innenmeinung.
Einstellungen zu Triage-Kriterien
Die aktuellen Daten weisen im Vergleich zu November 2020 keine starken Veränderungen auf (Abbildung 2). Die Kriterien “Schwere der Erkrankung”, “Systemerhalter” und “Betreuungspflichten” verloren etwas an Zustimmungen, während Priorisierung von “Jungen”, “Menschen, die mehr einzahlen” und “Privatversicherten” leicht zunahmen. Bei den anderen Kriterien gab es kaum merkbare Veränderungen. Dies zeigt, dass die Zustimmung zu den Kriterien im Schnitt näher zueinander gerückt ist.
Weiters ist es in einer Triagesituation durchaus möglich und auch angebracht, dass mehrere Kriterien gleichzeitig berücksichtigt werden bzw. zur Anwendung kommen. Abbildung 3 zeigt die Korrelationen der einzelnen Triage-Kriterien (Nov./Dez. 2021) miteinander. Drei Kriterien-Paare weisen dabei relativ hohe positive Korrelationen auf. Erstens korrelieren die Kriterien “privatversichert” mit “Menschen, die mehr in das öffentliche Gesundheitssystem einzahlen” (0,56). Zweitens korrelieren “Betreuungspflichten” und “Systemerhalt” (0,47). Und drittens weisen auch die Kriterien “Systemerhalt” und “Impfung” eine positive Korrelation auf (0,42). Diese diese Muster scheinen demnach deutlich zu machen, dass für manche Menschen die materielle Leistung ausschlaggebend für eine Priorisierung sein sollte. Hingegen sind Priorisierung von Menschen mit Betreuungspflichten bzw. von Systemerhalter*innen sozial-orientierte Kriterien, welche beide Personen bevorzugen, die in der Gesellschaft etwas Immaterielles beitragen. Priorisierung von geimpften Österreicher*innen lässt sich auch mit dem Gedanken der Systemerhaltung vereinbaren. Dies ist so denn sich impfen zu lassen, schützt nicht nur einen selbst sondern auch andere. Starke negative Korrelationen zwischen den Triage-Kriterien lassen sich hingegen nicht finden.
Priorisierung von Gegen-Corona-Geimpften
Der letzte Abschnitt dieses Beitrags widmet sich also Faktoren, die mit dem Triage-Kriterium “Geimpfte auf Intensivstationen zuerst zu behandeln” in Zusammenhang stehen.
Wendet man ein Probit-Regressionsmodell an (sh. Anhang), so zeigt sich, dass sowohl größeres Vertrauen in die Wissenschaft wie auch in die Bundesregierung mit Zustimmung der Priorisierung von Geimpften korreliert. Im Gegenteil sind Personen, die den Parteien FPÖ, Team HC Strache, MFG (Menschen Freiheit Grundrechte) ihre Stimme geben oder ungültig oder gar nicht wählen würden, stärker gegen diese Art der Priorisierung. Eine positive Korrelation mit der Zustimmung zum Szenario, Geimpfte in Priorisierungsentscheidungen ungeimpften Menschen vorzuziehen, hatte der Impfstatus der Befragten: Wer selbst mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft ist, ist eher dazu bereit, die Priorisierung geimpfter Menschen im Kontext von Intensivbehandlungen gutzuheißen, wie auch Abbildung 4 zeigt.
Die anderen untersuchten Variablen (Geschlecht, Bildungsniveau, Migrationshintergrund und Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem) wiesen keine statistisch signifikanten Korrelationen auf.
Es zeigen sich also Differenzen bezüglich des Triage-Kriteriums “Priorisierung von Geimpften auf Intensivstationen”. Es ist auch zu vermuten, dass das Thema der Impfung gegen das Coronavirus grundsätzliche bisher eher verborgene Differenzen in der österreichischen Gesellschaft deutlicher als bisher sichtbar macht. Dazu gehört Vertrauen in die Wissenschaft. Auch offene Differenzen, wie politische Parteipräferenzen, scheinen mit dem oben genannten Triage-Kriterium in Zusammenhang zu stehen.
Fazit
Triage in der Intensivmedizin betrifft einige der schwierigsten existierenden Dilemmata in der Medizin-bzw. Bioethik, aber auch in der Gesundheitspolitik. Schließlich steht nicht weniger am Spiel als menschliche Leben und das in einem Rahmen, in dem Gleichheit aufgrund zu knapper Ressourcen keine Option mehr ist. Um Kriterien zu finden und festzulegen wie triagiert wird, könnten auch demokratisch die Einstellungen der Bevölkerung herangezogen werden. Allerdings ist zu empfehlen diese nicht ohne ein Expert*innengremium zu implementieren, denn “normale” Bürger*innen sind sich nicht immer aller Abwägungen und Spannungen zwischen, sowie Folgen von, möglichen Triage-Kriterien bewusst.
Was auf jeden Fall wesentlich bleibt, ist dass solche Kriterien für eine Triage den Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit (Englisch: procedural justice) genüge tun sollten. Die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit, die am meisten Konsens finden, sind:
Exaktheit
Konsistenz
Unvoreingenommenheit
Umkehrbarkeit
Tranzparenz
Dies bedeutet, dass Kriterien für eine medizinische Triage auf exakt festgelegten Daten bzw. Fakten basieren, konsistent sein (also eine innere Logik besitzen, die sich nicht widerspricht), ohne Vorurteile oder Parteilichkeit getroffen werden, umkehrbar und nicht absolut bzw. unveränderbar sein müssen., Zudem müssen sie für alle involvierten Personen und Interessen offen und nachvollziehbar getroffen und vollzogen werden.
[1] Dabei geht es um die Maximierung aus einer Kosten-Nutzen Rechnung der QALY (Quality-Adjusted Life Year/Qualitätskorrigiertes Lebensjahr) oder DALY (Disability-Adjusted Life Year/Behinderungskorrigiertes Lebensjahr).
Thomas Resch ist als Doktorand am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gerechtigkeitsforschung, Verteilungspräferenzen, Einstellungen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und international vergleichender Analyse von Wohlfahrtsstaaten sowie von Gesundheitspolitik und Gesundheitssystemen.
Anhang
Die verwendeten Fragen finden sich in den Fragebögen für Welle 17 & 27 des ACPP https://viecer.univie.ac.at/coronapanel/austrian-corona-panel-data/frageboegen/
Ordered Probit Regression Modelle
Abhängige Variable: Präferenz zu Priorisierung von geimpften Personen auf Intensivstationen
* p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001