03.05.2022 - PDF

Einsamkeit und die Wahrnehmung sozialer Normen zum Verhalten in der Corona-Krise

  • Junge, arbeitslose und alleinlebende Personen sowie jene mit älteren Angehörigen im Haushalt berichten häufiger von Einsamkeit
  • Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund sind tendenziell etwas einsamer als Männer und jene ohne Migrationshintergrund, wobei diese Unterschiede nur teilweise signifikant sind
  • Befragte, die sich häufig einsam fühlen, schätzen die Intensität sozialer Normen konstanter ein als jene, die sich seltener einsam fühlen
  • In Phasen entspannteren Pandemiegeschehens nehmen einsamere Befragte Normen zu den Maßnahmen zu Hause bleiben und Abstand halten stärker wahr, was in einem Teufelskreis der weiteren Vereinsamung münden könnte

Von David W. Schiestl

In regelmäßigen Abständen werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf die Entwicklung der Einsamkeit in der Corona-Krise, wobei einige Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Gruppen und weitere Trends identifiziert wurden. Allgemein lässt sich eine Fortschreibung dieser Zusammenhänge erkennen: Unsere Befragten empfinden während Phasen wachsender Infektionszahlen und strengerer Maßnahmen tendenziell größere Einsamkeit. In der ACPP-Umfrage im April 2022 fühlten sich 22% der Befragten an manchen Tagen und 15% mehrmals die Woche (oder öfter) einsam. 63% gaben an, in der Woche vor der Befragung gar nicht einsam gewesen zu sein (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Entwicklung der Einsamkeitsempfindungen im Zeitverlauf. N = 1437 bis 1600; Daten gewichtet.

Zugunsten besserer Lesbarkeit wurde die Beschriftung jeder zweiten Umfragewelle ausgespart. Der Wortlaut der Fragen und Antwortmöglichkeiten kann im Anhang nachgeschlagen werden.

Einsamkeit im Kontext

In früheren Beiträgen wurden bereits einige allgemeine Zusammenhänge zwischen soziodemografischen Charakteristika und der Einsamkeit beleuchtet. Nun wollen wir einen Blick auf die Entwicklung dieser Beziehungen im Zeitverlauf werden. Wie in der folgenden Grafik ersichtlich wird, sind Menschen unter 31 Jahren generell stärker von Einsamkeit betroffen als ältere (siehe Abb. 2a). Zwischen den Geschlechtern zeigen sich immer wieder Phasen unterschiedlicher Einsamkeitsempfindungen: Im April und Mai 2020, im Februar, April, September und November 2021 sowie im Februar 2022 berichteten Frauen signifikant häufiger von Einsamkeit als Männer (siehe Abb. 2b). In den restlichen Umfragewellen verschwimmt dieser Zusammenhang jedoch.

Befragte, die mit älteren Angehörigen im Haushalt wohnen, berichten ebenfalls durchwegs von stärkeren Einsamkeitsgefühlen (siehe Abb. 2c). Ähnlich ergeht es jenen, die alleine leben – wenngleich hier die Stärke des Zusammenhangs deutlich schwankt (siehe Abb. 2d). Bezüglich des Migrationshintergrunds[1] zeichnet sich wiederum ein durchwachsenes Bild: Von Mitte Mai bis Dezember 2020 und von April 2021 bis zur aktuellen Umfragewelle im April 2022 geben Menschen mit Migrationshintergrund etwas häufiger an, sich einsamer zu fühlen als jene ohne Migrationshintergrund (siehe Abb. 2e). In den ersten Wochen der Pandemie in Österreich und im Winter 2020/2021 verschwimmt allerdings auch hier der Zusammenhang.

Während sich zwischen den meisten Erwerbsgruppen keine nennenswerten Unterschiede zeigen, weisen Personen in Arbeitslosigkeit ebenfalls höhere Werte von Einsamkeit auf als andere Erwerbsgruppen (siehe Abb. 2f). Im April 2022 gesellen sich zu dieser Gruppe auch jene Befragte, die in Kurzarbeit sind – auch sie berichten von erhöhter Einsamkeit im Vergleich zu normal Erwerbstätigen, Personen im Home-Office und jenen außerhalb des Arbeitsmarkts („nicht-Erwerbspersonen“). In unserer Befragung im April 2022 gaben allerdings nur 55 Personen an, in Kurzarbeit zu sein.

Abb. 2: Soziodemografische Merkmale und Einsamkeit im Zeitverlauf.

2a. Einsamkeit nach Altersgruppen. 2b. Einsamkeit nach Geschlecht †. 2c. Einsamkeit nach Zusammenleben mit älteren Angehörigen. 2d. Einsamkeit nach Haushaltsgröße. 2e. Einsamkeit nach Migrationshintergrund †. 2f. Einsamkeit nach Erwerbsgruppen. Zugunsten besserer Lesbarkeit wurde die Beschriftung jeder zweiten Umfragewelle ausgespart. Die Spannen der jeweiligen Effektstärken sowie die Zahl der gültigen Antworten pro Welle können im Anhang A, der Wortlaut der Fragen und Antwortmöglichkeiten im Anhang B nachgeschlagen werden.

†) Zusammenhang nicht in allen Wellen signifikant.

Normenwahrnehmung und Einsamkeit

Im Zuge der Umfragen des ACPP wird regelmäßig die Wahrnehmung injunktiver[1] (IN) und deskriptiver Normen[2] (DN) zu den Verhaltensempfehlungen Abstand halten, außer für Notwendigkeiten zu Hause bleiben und Schutzmasken tragen im öffentlichen Raum betrachtet. Wenig überraschend zeigt sich hier über lange Zeit ein Zusammenhang mit der Intensität des Pandemiegeschehens und den jeweils gültigen Maßnahmen: In den Sommermonaten 2020 und 2021, als sich die pandemische Lage entspannte, sank auch die Normenwahrnehmung deutlich, während sie bei wachsenden Infektionszahlen wieder anstieg. Zuletzt änderte sich dieses Muster allerdings: Trotz hoher Infektionszahlen im Februar und April 2022 wurden soziale Normen zur Pandemie vergleichsweise schwach wahrgenommen, was durch die damals anstehenden Lockerungen der Maßnahmen erklärt werden könnte.

Und in welcher Beziehung steht das nun mit der Einsamkeit? Allgemein lässt sich feststellen, dass starke Einsamkeit mit geringeren Schwankungen der Normenwahrnehmung einhergeht. Während also der Großteil der Befragten klar dem oben beschriebenen Muster folgt, weisen die diesbezüglichen Eindrücke häufig einsamer Personen bei allen abgefragten Normen weniger Veränderungen auf – sie verweilen auf relativ ähnlichem Niveau.

Besonders deutlich wird dies bei den IN zu den Punkten zu Hause bleiben und Abstand halten (siehe Abb. 3a, 3c) sowie der DN zur Maßnahme zu Hause bleiben (siehe Abb. 3b), wo die Einschätzungen einsamer Personen durchwegs hoch bleiben. Hier tritt stärkere Einsamkeit in Phasen entspannterer pandemischer Lage zugleich mit höheren Normenwahrnehmungen auf. Wie sich anhand der Abbildung bereits erahnen lässt, verlieren die entsprechenden Unterschiede in Zeiten intensiven Pandemiegeschehens ihre statistische Signifikanz, da auch weniger einsame Befragte wieder gestiegene Normenwahrnehmungen aufweisen.

Abb. 3: Wahrnehmung sozialer Normen im Zeitverlauf (Mittelwerte), nach Einsamkeitsempfinden.

3a. Injunktive Norm (IN): zu Hause bleiben. 3b. Deskriptive Norm (DN): zu Hause bleiben. 3c. Injunktive Norm (IN): Abstand halten. Die Zusammenhänge sind nicht in allen Wellen signifikant. Die Spannen der jeweiligen Effektstärken sowie die Zahl der gültigen Antworten pro Welle können im Anhang A, der Wortlaut der Fragen und Antwortmöglichkeiten im Anhang B nachgeschlagen werden.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die bereits früher diskutierten Zusammenhänge fortschreiben: Jüngere, alleine lebende und arbeitslose Personen sowie jene mit Migrationshintergrund, älteren Angehörigen im Haushalt oder Frauen sind zumindest phasenweise stärker von Einsamkeit betroffen. Wer sich besonders einsam fühlt, weist dabei konstantere Wahrnehmungen sozialer Normen zum Verhalten in der Pandemie auf als weniger einsame Befragte.

Hier könnte die Beschaffenheit des sozialen Umfelds eine Rolle spielen: Seltener Kontakt mit anderen bietet weniger Möglichkeiten, die Normenwahrnehmung zu schärfen. Dadurch hängt die eigene Einschätzung stark von Wenigen ab, was verzerrend wirken kann. Darüber hinaus könnte auch ein Wechselspiel aus Prosozialität und Misstrauen diesen Zusammenhang prägen. Eine großangelegte Untersuchung von Gabriele Belucci aus dem Jahr 2020 zeigt auf, dass hohe Einsamkeit einerseits mit stärkeren allgemeinen altruistischen und prosozialen Einstellungen, andererseits aber auch mit häufigeren negativen Erwartungen gegenüber sozialen Interaktionen einhergeht – einsame Personen sind also oftmals zunächst schnell positiv gesinnt und dann schnell enttäuscht. Diese beiden Pole könnten die Einschätzungen sozialer Normen bei einsamen Menschen moderieren und so dazu führen, dass diese relativ konstant bleiben.

Dass einsame Befragte also IN und DN zur Maßnahme zu Hause bleiben sowie IN zur Maßnahme Abstand halten in entspannteren Phasen der Pandemie stärker wahrnehmen, könnte ihre Einsamkeit in einer Art Teufelskreis außerdem noch weiter verfestigen: Wer denkt, es würde von ihm oder ihr erwartet, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten, meidet eventuell noch eher den Kontakt zu anderen.

Um derartige Teufelskreise zu durchbrechen, ist oftmals Hilfe von außerhalb wichtig. Daher sollten einerseits die Medien mehr Bewusstsein für dieses Thema schaffen und andererseits Hilfsprojekte wie das Plaudernetz der Caritas oder die Sorgenhotline der Stadt Wien stärker unterstützt werden. Aber auch Privatpersonen können etwas bewirken: Durch achtsamen Umgang mit dem eigenen Umfeld können Menschen vielleicht vor dem Absturz in die starke Einsamkeit bewahrt – oder sogar wieder herausgezogen – werden.

Methodischer Anhang


David W. Schiestl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, Sozialpsychologie und Organisation.


Fußnoten

[1] Migrationshintergrund ist hier definiert als: Beide Eltern wurden im Ausland geboren (vgl. Statistik Austria 2022).

[2] Injunktive Normen beschreiben die Meinungen anderer Menschen (wie wird die Einstellung der Bevölkerung zu diesen Verhaltensempfehlungen wahrgenommen?)

[3] Deskriptive Normen beziehen sich auf das Verhalten anderer Personen (wie wird das empfehlungskonforme Verhalten der Menschen in Österreich eingeschätzt?)