27.05.2020
Europäische Solidarität während der COVID-19-Pandemie? Die öffentliche Meinung zur europäischen Krisenfinanzierung.
- Die österreichische Bevölkerung ist sich uneinig über die präferierte Form der europäischen Krisenfinanzierung
- Eine gemeinsame Schuldenaufnahme wird von mehr Befragten abgelehnt als unterstützt. Wir blicken auf drei mögliche Erklärungsfaktoren: (a) Institutionen: Befragte stimmen einer gemeinsamen Schuldenaufnahme eher zu, wenn sie Steuerpolitik stärker europäisieren wollen und die Krise stärker durch die EU gesteuert sehen wollen; (b) Nutzen für Österreich: Wer denkt, dass die Unterstützung anderer Länder auch Österreich nutzen wird, stimmt einer gemeinsamen Schuldenaufnahme eher zu; (c) Fairness: Personen, die das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit unterstützen, wonach denen geholfen werden soll die Hilfe benötigen, sind eher für eine gemeinsame Schuldenaufnahme.
Von Fabian Kalleitner und Licia Bobzien
Am 18. Mai kündigten Frankreich und Deutschland die Schaffung eines europäischen ‚Wiederaufbau-Fonds‘ an. Im Zuge dessen wird geplant, dass die Europäische Union gemeinsam Schulden in Höhe von etwa 500 Milliarden Euro aufnimmt, die als Zuschüsse an bedürftige Länder weitergegeben werden, um die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie abzuschwächen.
In Frankreich wird der deutsch-französische Vorschlag des ‚Wiederaufbau-Fonds‘, von der Tageszeitung le monde als ‚une petite révolution potentielle‘ beschrieben. In Deutschland wird der Vorschlag dagegen als Abkehr von der bisherigen Regierungslinie gesehen: Die Rückzahlung dieses Wiederaufbau-Fonds würde in die finanzielle Verantwortung aller Mitgliedsstaaten fallen und damit Staaten, die zukünftig stärker zum gemeinsamen Budget beitragen (sog. Nettozahler) stärker belasten. Zudem würden in erster Linie wohl schwer vom Virus getroffene Länder wie Italien stärker von den Mitteln des Fonds profitieren. Ein solches gemeinsames Vorgehen bei der Kreditaufnahme wurde von Deutschland und anderen finanziell gut aufgestellten Mitgliedsstaaten bisher abgelehnt. So verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz in Abstimmung mit den Regierungschefs Dänemarks, Schwedens und der Niederlande, dass Solidarität über Kredite und nicht wie im „Wiederaufbau-Fonds“ geplant über Zuschüsse erfolgen sollte. Am Samstag veröffentlichten diese vier Staaten dazu einen Gegenvorschlag der auf zwei Jahre befristet die Vergabe von EU-Kredite vorsieht.
Für die langfristige Debatte um Solidarität innerhalb der europäischen Union sind aber nicht nur diese politischen Entscheidungen von Bedeutung, sondern auch die Frage, inwiefern die Bürger*innen der einzelnen Mitgliedsstaaten die politischen Richtungsentscheidungen unterstützen oder ablehnen. Wie steht also die österreichische Bevölkerung zu unterschiedlichen Krisenfinanzierungsinstrumenten und in welcher Beziehung steht dies zu langanhaltenden Diskussionen über die Rolle der EU und ihren Nutzen für Österreich?
Uneinigkeit und Unsicherheit über die optimale Form der Europäischer Krisenfinanzierung
Das Corona-Panel hat, noch vor dem Bekanntwerden des deutsch-französischen Vorschlags, zwischen dem 8. und 13. Mai 2020 Daten zu Einstellungen von Bürger*innen zu unterschiedlichen möglichen Krisenfinanzierungsinstrumenten auf europäischer Ebene erhoben. Dabei wurden die Befragten zu fünf unterschiedlichen Krisenfinanzierungsinstrumenten befragt: (1) Freiwillige Sachspenden an Mitgliedsstaaten, (2) gemeinsamer Fonds zur Kreditvergabe, (3) Freiwilliger Fonds ohne Rückzahlpflicht, (4) Gemeinsame Aufnahme von Schulden, (5) höhere Beiträge an die EU durch Mitgliedsstaaten. Der genaue Wortlaut der Fragestellung ist im Methodenappendix einsehbar.
Abbildung 1 zeigt, dass keines der hier vorgeschlagenen Krisenfinanzierungsinstrumenten von der Mehrheit befürwortet wird. Dabei finden manche Krisenfinanzierungsinstrumente jedoch größere Unterstützung als andere. Eine allgemeine Erhöhung der EU-Mitgliedsbeiträge sowie eine gemeinsame Schuldenaufnahme erfahren am wenigsten Zustimmung. Am ehesten zugestimmt wird einem gemeinsamen Fonds zur Kreditvergabe sowie freiwilligen Sachspenden. Insgesamt fällt auf, dass über alle Fragen hinweg ungefähr ein Viertel der Anteil Befragten mit „teils-teils“ antworteten. Dies deutet darauf hin, dass die Meinungsbildung keineswegs abgeschlossen ist und vermutlich von Unsicherheit geprägt ist. Demnach kann von keinen klaren Mehrheiten für oder gegen einen Vorschlag ausgegangen werden.
Eine im Zuge der Debatten um die unterschiedlichen Finanzierungsvorschläge wichtige Frage ist die, welche Teile der Bevölkerung für oder gegen die Möglichkeit der „gemeinsamen Aufnahme von Schulden“ eingestellt sind.[1] Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf mögliche Faktoren, die die Antwort der Befragten in Bezug auf diesen Finanzierungsvorschlag beeinflusst haben könnten.
Wer stimmt einer gemeinsamen Aufnahme von Schulden eher zu? Die Rolle von Institutionen, Nutzen und Fairness
Abbildung 2 zeigt die individuelle Zustimmung zu einem solchen Fonds ohne Rückzahlungspflicht nach verschiedenen möglichen Erklärungsfaktoren. Wir weisen hier darauf hin, dass es sich hierbei um eine Darstellung von Korrelations-Zusammenhänge handelt, die keinen Rückschluss auf Kausalität zulassen. Im ersten Diagramm a) ist die Zustimmung nach gewünschter Kompetenzebene für Steuerpolitik dargestellt. Individuen wurden gefragt, ob sie als Kompetenzebene für Steuerpolitik die regionale/lokale, nationale, oder europäische Ebene bevorzugen. Jene, die die europäische Kompetenzebene vorziehen, stimmen einem solchen Fonds auch eher zu. Ein ähnliches Bild zeigt sich, auch wenn man die Frage über den Wunsch nach zentraler Steuerung der Krise heranzieht (siehe Anhang). Schaut man sich b) die Zustimmung zur Aussage an, dass Österreich von der Hilfe für andere EU-Ländern selbst profitiert („Eigennutzen“), sieht man ein ähnliches Muster: Stimmt man diesen Aussagen eher zu, stimmt man auch einer Finanzierung über gemeinsame Aufnahme von Schulden eher zu. Das Bild ergibt sich auch, wenn man c) nach Bedürftigkeit als Hilfskriterium fragt (Bedarfsgerechtigkeit).
Im Vergleich zu den anderen Parteien zeigt sich, dass Wähler*innen der ÖVP etwas und die der FPÖ einer gemeinsamen Schuldenaufnahme deutlich ablehnender eingestellt sind als die der anderen Parteien. Nimmt man alle Erklärungsfaktoren in einem Regressionsmodell auf, zeigt sich, dass der Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Zustimmung zur gemeinsamen Schuldenaufnahme bereits relativ gut mithilfe der anderen drei Faktoren erklärt wird. Zentral für die Zustimmung eines Instruments der gemeinsamen Schuldenaufnahme sind im Modell die Ansichten über die bevorzugte intentionelle Ebene für Steuerpolitik, der Wunsch nach zentraler Steuerung der Krise, der wahrgenommene Nutzen für Österreich und die Präferenz des Prinzips der Bedarfsgerechtigkeit. Insbesondere die Relevanz des Eigennutzens sticht hier als eines der robustesten Merkmale hervor und weist für alle Finanzierungsvorschläge in Abbildung 1 einen signifikant positiven Zusammenhang auf. Dies mach deutlich, dass Österreich als sogenannter „Nettozahler“ auch davon abhängig ist, wie sehr die Meinung vorherrscht, dass durch die Hilfe letztlich auch Österreich profitieren kann.
Solidarität in der Krise
Es zeigt sich somit, dass es innerhalb der österreichischen Bevölkerung keine klare Mehrheit für aber auch gegen sehr unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten gibt. Die Meinungsbildung ist hier vielmehr erst im Gange. Die Beweggründe für eine Zustimmung oder Ablehnung von gemeinsamer Schuldenaufnahme sind zudem komplex und multikausal: Verschiedene Vorstellungen zum europäischen Zusammenleben beeinflussen, ob und wie stark man etwa einer gemeinsamen Aufnahme von Schulden zustimmt. Ein ähnliches Muster sieht man auch, wenn man sich die Zustimmung zu anderen möglichen Krisenfinanzierungsinstrumenten anschaut (siehe dafür den Appendix). Das bedeutet, dass keine Form der europäischen Krisenfinanzierung die Fragmentierung bezüglich der gewünschten Rolle der europäischen Union innerhalb der österreichischen Bevölkerung reduzieren kann. Vielmehr sind es wiederum grundlegende Fragen über die Kompetenzverteilung zwischen nationaler und europäischer Ebene sowie den Nutzen der EU für Österreich, die auch die Meinungen zur EU-Finanzierung der COVID-19-Krise mitprägen. Dennoch deutet die Rolle der Bedarfsgerechtigkeit darauf hin, dass dieser Krisenmoment geeignet ist, Zustimmung zu kontroversen Themen durch Gerechtigkeitsabwägungen zu generieren.
Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.
Licia Bobzien ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl "Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit" an der Universität Potsdam sowie Doktorandin an der Hertie School, Berlin. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit der Frage, inwiefern ökonomische Ungleichheit politische Präferenzen beeinflusst.
Anmerkung
[1] Die Kategorie „freiwilliger Fond ohne Rückzahlungspflicht“ bildet Teile des deutsch-französischen Vorschlags ebenso ab, da sie den Zuschusscharakter der Maßnahme hervorhebt. Im Anhang findet sich die gleiche Analyse für den Fonds ohne Rückzahlung als abhängige Variable. Mit Ausnahme der institutionellen Ebene, welche in diesem Fall nicht signifikant ist, zeigen die Analysen ähnliche Ergebnisse.