16.05.2020

Wie Gefahrenwahrnehmung das Ausgehverhalten im Zeitverlauf beeinflusst

  • Die persönliche wie kollektive Gefahreneinschätzung sank kontinuierlich mit Dauer der Krise. Zur gleichen Zeit nahm die Häufigkeit, mit der Personen aus „nicht essenziellen“ Gründen wie Sport, Langeweile oder um Freunde zu treffen das Haus verlassen, zu.
  • Personen, welche die persönliche wie kollektive Gefahr als groß einschätzen, verlassen das Haus seltener als Personen, die von einer niedrigen persönlichen oder kollektiven Gefahr ausgehen.
  • Die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, selbst mit dem Virus infiziert zu werden, hat jedoch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Haus aus nicht essenziellen Gründen verlassen hat.
  • Vielmehr war die Sorge um das Wohl anderer in Summe wichtiger dafür, dass Personen das Haus weniger verlassen haben, als die Sorge um das Eigenwohl.

Von Fabian Kalleitner, David W. Schiestl und Bernhard Kittel

Mithilfe von aggregierten und anonymisierten Handydaten konnten Forschende der TU Wien und des Complexity Science Hub Vienna bereits nachzeichnen, wie stark sich die Ausgangsbeschränkungen auf das Verhalten der österreichischen Bevölkerung ausgewirkt haben. Dabei zeigt sich zum einen eine extreme Reduktion der Bewegungen nach Beginn der Ausgehbeschränkungen, aber auch ein anschließend einsetzender leichter Anstieg der Bewegungen bereits vor den Lockerungsmaßnahmen. Was bewegt Menschen, zu Hause zu bleiben, und was bewegt Sie, nun wieder häufiger das Haus zu verlassen? In den letzten Wochen fokussierte die Diskussion über das Ausgehverhalten oft auf den Faktor „Angst“. War die mit dem Corona-Virus assoziierte Gefahr übertrieben und wurde die Bevölkerung zu sehr verängstigt? Während sich diese Fragen nur schwer beantworten lassen, wollen wir hier der grundlegenderen Frage nachgehen, ob die vermutete Gefahr das Ausgehverhalten beeinflusst hat. Konkret werden wir im Folgenden nachzeichnen, ob (und wenn ja, inwieweit) eine kontinuierliche Reduktion der subjektiven gesundheitlichen Gefahreinschätzung des Coronavirus die Menschen dazu veranlasst hat, häufiger das Haus zu verlassen.

Wie bereits in mehreren Blogs behandelt wurde (siehe Blog 1 und 22), zeigt sich bezüglich der Wahrnehmung der gesundheitlichen Gefahr des Coronavirus, dass die kollektive Bedrohung größer eingeschätzt wird als die subjektive. Dieser „Optimismus-Bias“ der subjektiven Gefahreneinschätzung ist in der Forschungsliteratur gut dokumentiert. Mit Dauer der Krise ging die Gefahrenwahrnehmung außerdem sukzessive zurück (Abbildung 1). Gleichzeitig gehen Menschen nun häufiger aus dem Haus (Abbildung 2). Wir konzentrieren uns hier und im Folgenden auf „nicht essenzielle“ Gründe das Haus zu verlassen, z. B. um Sport zu treiben, Freunde zu treffen, oder aus Langeweile.[1] Ein erster Blick auf macht klar, dass die zwei Prozesse gegenläufig sind. Aber sind Personen, welche die gesundheitliche Gefahr höher einschätzen auch diejenigen, die seltener das Haus verlassen?

Abbildung 1: Einschätzung der gesundheitlichen Gefahr

Abbildung 2: Häufigkeit des Verlassens des Hauses

Um diese Frage zu beantworten, betrachten wir die mittlere Ausgehhäufigkeit der Summe aus den Gründen „Sport“, „Langeweile“ und „Freunde treffen“. Dabei vergleichen wir Personen, die die gesundheitliche Gefahr für groß halten mit Personen, die die Gefahr als klein einschätzen. Wie Abbildung 3 zeigt, verlassen Personen, die das Virus für eine für sie selbst kleine Gefahr halten, häufiger das Haus als Personen, welche die Gefahr groß einschätzen. Dieser Unterschied zwischen den Gruppen sinkt im Verlauf der Zeit leicht. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bezüglich der unterschiedlichen Einschätzung der kollektiven Gefahr für die österreichische Bevölkerung, aber hier bleibt dieser Unterschied bestehen: Personen, die von einer großen Gefahr für die Bevölkerung ausgehen, verlassen das Haus auch in späteren Wellen deutlich seltener für nicht-essenzielle Gründe als Personen, die von einer kleinen kollektiven Gefahr ausgehen. Demnach scheint die persönliche Gefahr nur in der relativ kurzen Anfangsphase Personen motiviert zu haben, daheim zu bleiben, während Unterschiede aufgrund der Einschätzung der kollektiven Gefahren geblieben sind.

Abbildung 3: Nicht-essenzielles Ausgehverhalten nach Einschätzung der gesundheitlichen Gefahr (Notiz: Vergleich von Personen, welche die gesundheitliche Gefahr als „sehr groß“ und „groß“ einschätzen (Große Gefahr) mit Personen, welche die Gefahr für „sehr klein“ und „klein“ halten (Kleine Gefahr). Gewichtete Mittelwerte mit 95% Konfidenzintervall.)

Führt aber nun auch die Veränderung in der Gefahrenwahrnehmung über die Zeit zu einer Veränderung in der Ausgehhäufigkeit? Könnten andere Gründe hier vielleicht entscheidender sein? Da dieselben Personen wiederholt befragt werden, können wir nachvollziehen, inwiefern eine Veränderung der Gefahrenwahrnehmung einer Person auch dazu führt, dass diese Person das Haus öfter verlässt. Dazu haben wir eine sogenannte Fixed-Effects Regression mit den Daten der Welle 1-5 berechnet (für Details siehe Methodenappendix). Das Resultat (Tabelle 1) zeigt, dass die sinkende Einschätzung der kollektiven Gefahr tatsächlich zu einem Anstieg der Ausgehhäufigkeit geführt hat. Der Koeffizient von -0.087 bedeutet vereinfacht, dass eine Person deren Gefahrenwahrnehmung um einen Faktor sinkt (etwa von „groß“ zu „mittelmäßig“) im Schnitt das Haus um ein Drittel der Distanz eines Faktors (etwa von “nie“ zu „an manchen Tagen“) häufiger verlässt. Damit lässt sich keineswegs die gesamte Veränderung des Verhaltens erklären, aber dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Gefahrenwahrnehmung ein Faktor war, der die österreichische Bevölkerung motiviert hat, daheim zu bleiben. Während dies für kollektive Gefahreneinschätzung über den gesamten Beobachtungszeitraum (Ende März – Ende April) unabhängig von der Inklusion eines generellen Zeittrends, der die zunehmende Anzahl an Lockerungen abbildet, zutrifft, ist der Effekt der persönlichen Gefahreneinschätzung inkonsistenter und in etwa immer halb so groß. Es scheint demnach bedeutender zu sein, wie die Gefahr für andere eingeschätzt wird, als wie Gefahr für die eigene Person eingeschätzt wird.

Dies zeigt auch ein zusätzlicher Blick auf die Einschätzung der persönlichen Ansteckungsgefahr. Diese hat in keinem Modell einen statistisch signifikanten Einfluss auf das Ausgehverhalten. Möglicherweise spielt es hier eine wichtige Rolle, dass die Frage zur persönlichen gesundheitlichen Gefahr nicht nur die Ansteckungsgefahr misst – sondern auch die Erwartung eines schweren Krankheitsverlaufs. Klar wird aber, dass die Vermutung erhöhter Ansteckungsgefahr allein nicht ausreichend dafür war, Menschen zum disziplinierten Verharren zuhause zu motivieren. Ähnliches gilt auch für die Ansteckungsgefahr von Personen in der Umgebung, die bei Inklusion eines generellen Trends einen sehr geringen und insignifikanten Effekt aufweist.

In Summe zeigt sich, dass nicht die Krankheit selbst, sondern die oft abstrakte kollektive Gefahreneinschätzung und damit auch die Solidarität mit anderen, stärker gefährdeten Personen die Menschen in Österreich dazu bewog, das Haus weniger für nicht essenzielle Tätigkeiten zu verlassen. Dies unterstützt auch Ergebnisse anderer Untersuchungen, die aufzeigen, dass Appelle zur Steigerung von Ansteckungs-präventiven Maßnahmen, wie etwa zum Händewaschen, besser wirken wenn Sie auf Gefahren für andere hinweisen als wenn sie auf persönliche Gefahren aufmerksam machen. Zukünftige Forschung wird zeigen, wie stark andere Faktoren wie Medien und politische Einstellungen oder auch institutionelles Vertrauen zusätzlich dazu beigetragen haben, dass Personen dem staatlich verordneten Ausgehverbot konsistent Folge geleistet haben.


Fabian Kalleitner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Aktuell forscht er zu Themen wie Steuerpräferenzen, Steuerwissen, Wahrnehmungsmechanismen und Arbeitswerte.

David W. Schiestl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Migration, Sozialpsychologie und Organisation.

Bernhard Kittel ist Universitätsprofessor am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien und Vizedekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Seine Forschungsschwerpunkte sind Experimentelle Gerechtigkeitsforschung, Experimentelle Gremien- und Wahlforschung, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktforschung sowie International vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsbeziehungen.


Regressionsergebnisse

Tabelle 1: Regressionsergebnisse

Legende: t-Statistik in Klammern; * p < 0.05, ** p < 0.01, *** p < 0.001. Fixed-Effects-Panel-Regressionsmodelle. Kontrollvariablen inkludieren Variablen zum Erwerbsstatus inklusive Home-Office. Für die vollständige Tabelle siehe den Methodischen Anhang.