15.05.2020

Parlamentarische Opposition in der Corona-Krise

Von Marcelo Jenny & Wolfgang C. Müller

Demokratie braucht Opposition. Wie die Geschichte der Demokratie zeigt und wie es die Demokratietheorie formuliert, kann Demokratie über längere Zeit hinweg nur funktionieren, wenn die Handlungen der Regierenden kontrolliert werden, wenn inhaltliche Alternativen dazu aufgezeigt werden und Oppositionsparteien gleichzeitig alternative Angebote an politischem Führungspersonal präsentieren. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind können Wähler*innen bei den nächsten Wahlen eine echte Auswahl treffen. Die Notwendigkeit für die Regierung sich mit der Opposition auseinanderzusetzen, kompetitive Wahlen und die Gefahr des Amtsverlustes sind aber auch Mechanismen, die gutes Regieren befördern. Sie zwingen die Regierenden dazu, wohlfahrtsmaximierende Politik zu machen und ihre Entscheidungen gut zu begründen und sie bewahren Amtsinhaber*innen davor, den Versuchungen der Macht zu erliegen (Dahl 1966).

Diese Mechanismen wirken unabhängig von den Motiven der Opposition. Tatsächlich stehen für Oppositionsparteien zumeist ihre eigenen Parteiinteressen im Vordergrund; ihr zentrales mittelfristiges Ziel ist zumeist die Ablöse der Regierungspartei(en). Um diesem Ziel näher zu kommen, legen sie ihr Handeln zumeist darauf an, die Regierung politisch zu schwächen. D.h. Oppositionsparteien kritisieren die Entscheidungen der Regierung, weisen auf Schwächen und Fehler der Regierungsmitglieder hin und unterstützen nur einen Teil der von der Regierung vorgeschlagenen Gesetze – und die Unterstützung gilt selten den zentralen Inhalten der Regierungspolitik (Müller & Jenny 2013; De Giorgi & Ilonszki 2018).

Die Dynamik in der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition wird maßgeblich bestimmt durch die politische Agenda, also welche politischen Entscheidungsgegenstände gerade zu diskutieren und entscheiden sind. Regierung und Opposition befinden sich in einer Konkurrenz der Themensetzung. Die Regierung hat zwar immer strukturelle Vorteile, die politische Tagesordnung zu bestimmen, aber die Opposition ist nicht chancenlos. Eine plötzliche Krise, wenn sie nicht durch die Regierung selbst verursacht ist, insbesondere eine Bedrohung von außen, rückt aber die Regierung noch mehr in den Mittelpunkt des politischen Geschehens. Die Regierung hat einen noch größen Informations- und Ressourcenvorsprung als sonst und von ihr wird erwartet, einen Weg aus der Krise zu weisen. Das führt oft zu Änderungen in der öffentlichen Meinung und im Verhalten der politischen Opposition: Die Regierenden erhalten mehr Zuspruch („rally around the flag” Effekt) und die politische Opposition verstummt oder unterstützt die Maßnahmen der Regierung („Burgfrieden“) (Mueller 1970; Hetherington & Nelson 2003). Vor diesem Hintergrund werfen wir einen ersten Blick sowohl auf die Erwartungen der Bevölkerung an Regierung und Opposition als auch auf das tatsächliche Verhalten dieser Akteure im Parlament.

Erwartungen der Bevölkerung an Regierung und Opposition

Was waren die Erwartung der Bevölkerung an die Parteien, vor allem der Anhänger*innen von Regierungs- und Oppositionsfraktionen? Wir zeigen dazu ein paar Daten aus der 3. Welle des Corona-Panels von Mitte April (Feldzeit 11.-16. April).

Wer wünscht einen „Burgfrieden“ zwischen Regierung und Opposition?

Sollten sich die Oppositionsparteien derzeit mit ihrer Kritik an der Bundesregierung zurückhalten? Erhoben wurde die Zustimmung oder Ablehnung zu dieser Aussage auf einer fünf-teiligen Skala (von trifft sehr zu bis trifft gar nicht zu). 45% der Befragten stimmten dieser Aussage zu, 31% gaben „teils-teils“ an, 24% lehnten diese Aussage ab.

Abbildung 1 zeigt überraschenderweise keine klare Unterscheidung in Wähler*innen der Regierungsfraktionen einerseits und der Oppositionsfraktionen andererseits. Mehr als 60% der ÖVP-Wähler*innnen wollen, dass sich die Opposition mit ihrer Kritik an der Bundesregierung zurückhält. Nur sehr wenige ÖVP-Wähler*innen sind gegenteiliger Meinung. Bei den Wähler*innen der Grünen sind es hingegen nur 40%, die für eine zurückhaltende Oppositionspolitik sind. Rund ein Drittel der Grün-Wähler*innen wählte die „teils-teils“-Antwort. Von den Wähler*innen der Oppositionsparteien stimmen einem zurückhaltenden Oppositionskurs zu: NEOS (37%), SPÖ (33%), FPÖ (30%).

Abbildung 1: Oppositionsparteien sollten sich derzeit mit ihrer Kritik an der Bundesregierung zurückhalten - nach Wahlverhalten bei der NRW 2019. (Anmerkungen: Feldzeit: 11.-16. April 2020, N=1.500 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ für die österreichische Wohnbevölkerung gewichtet.)

Beachtet die Regierung die Vorschläge der Opposition zu wenig?

Zu den Aufgaben der parlamentarischen Opposition zählt nicht nur die Kritik der Regierung, sondern auch alternative Ideen zum Umgang mit Herausforderungen, im Speziellen zur Bewältigung der Corona-Krise, beizusteuern. Allerdings kann eine Regierung mit Vorschlägen, die von der Opposition kommen, sehr unterschiedlich umgehen. Die Bandbreite reicht von Ignorieren bis zur Übernahme der Vorschläge als Regierungspolitik. Wir haben dazu gefragt, ob die Ideen der Oppositionsparteien zur Bewältigung der Krise von den Regierungsparteien zu wenig beachtet werden. Etwa 39% der Befragten haben dieser Behauptung ganz oder eher zugestimmt während ca. 26% sie als nicht oder gar nicht zutreffend empfanden. 38% wählten die Antwort „teils-teils“.

Hier ist eine deutlichere Zweiteilung des Meinungsbilds in Positionen der Wähler*innen der beiden Regierungsparteien und der drei Oppositionsparteien zu erkennen. 45% der ÖVP-Wähler*innen sowie ein Drittel der Grün-Wähler*innen teilen nicht die Ansicht, dass Oppositionsvorschläge zu wenig beachtet werden. Bei den Wähler*innen der Oppositionsparteien ist dies nur 26% der NEOS, sowie 13% der SPÖ- und FPÖ-Wähler*innen der Fall. 41% der FPÖ- bzw. 43% der SPÖ-Wähler*innen sehen hingegen eine zu geringe Beachtung der Oppositionsvorschläge. Bei den NEOS-Wähler*innen sind es 27% (Abbildung 2).

Abbildung 2: Die Ideen der Oppositionsparteien zur Bewältigung der Krise werden von den Regierungsparteien zu wenig beachtet - nach Wahlverhalten bei der NRW 2019. (Anmerkungen: Feldzeit: 11.-16. April 2020, N=1.500 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ für die österreichische Wohnbevölkerung gewichtet.)

Sollte das Parlament der Regierung derzeit mehr Freiheiten geben?

In Krisenzeiten erhalten Regierungen oft zusätzliche Befugnisse. Sollte das Parlament die Regierung auch weniger kontrollieren und der Regierung mehr Freiheiten geben als in „normalen“ Zeiten?

Nahezu die Hälfte der ÖVP-Wähler*innen sind dieser Ansicht und weitere 30% geben „teils-teils“ an. Bei den Grün-Wähler*innen stimmen dagegen nur ein knappes Drittel zu und 36% haben die Antwort „teils-teils“ gewählt. Die größte Gruppe (39%) bei den Grün-Wähler*innen ist hingegen gegen mehr Freiheiten für die Bundesregierung. Damit sind die Grün-Wähler*innen beim Verhältnis Parlament-Regierung in Krisenzeiten fast so kritisch eingestellt wie die Wähler*innenschaft der drei Oppositionsparteien.

Bei den NEOS-Wähler*innen sind 29% für und 44% gegen mehr Freiheiten für die Bundesregierung. Bei den SPÖ-Wähler*innen sind 26% für und 37% dafür, bei den FPÖ-Wähler*innen sind 25% dafür und 33% dagegen. Ein beachtlicher Anteil der Oppositions-Anhänger*innenschaft war Mitte April, als die Kritik der Opposition an der Regierung bereits wieder deutlich zugenommen hatte, der Meinung, dass das Parlament der Bundesregierung mehr Freiheiten einräumen soll (Abbildung 3).

Abbildung 3: Das Parlament sollte der Bundesregierung derzeit mehr Freiheiten geben als sonst - nach Verhalten bei NRW 2019. (Anmerkungen: Feldzeit: 11.-16. April 2020, N=1.500 befragte Personen (ab 14 Jahre), Daten repräsentativ für die österreichische Wohnbevölkerung gewichtet.)

Gesetzesbeschlüsse seit Beginn der aktuellen Gesetzgebungsperiode

Werfen wir nun einen Blick auf das Verhalten der Opposition, konkret bei der Gesetzgebung. Seit Beginn der aktuellen Gesetzgebungsperiode des Nationalrats (27. GP) am 23. Oktober 2019 gab es 41 Gesetzesbeschlüsse im Nationalrat (Stand: 13. Mai). Sechs Gesetzesbeschlüsse kamen noch vor Angelobung der aktuellen Koalitionsregierung aus ÖVP und Grünen am 7. Jänner dieses Jahres zustande. Auch nachdem die neue Bundesregierung im Amt war, wurden Gesetzesvorlagen vor allem mit Hilfe von Initiativanträgen in den Nationalrat eingebracht. Seit dem Beginn der legislativen Befassung mit der Corona-Krise ab Mitte März hat sich diese Tendenz noch verschärft. Bei Initiativanträgen wird kein vorparlamentarisches Begutachtungsverfahren durchgeführt. Eine Änderung der bestehenden Rechtslage ist daher mittels dieses Instruments in sehr kurzer Zeit möglich.

Nur in wenigen Fällen waren Regierungsvorlagen die Grundlage der Gesetzesbeschlüsse in der 27. Gesetzgebungsperiode (Abbildung 4). Vielmehr wurden Gesetze hauptsächlich auf der Basis von Initiativanträgen und Anträgen von Ausschüssen, also aus dem Parlament heraus, beschlossen. Bei fast drei Viertel der beschlossenen Gesetze (30 von 41) von Oktober 2019 bis zur bisher letzten Nationalratssitzung am 28. April 2020 handelte es sich um Initiativanträge (IA) und bei vier um Ausschussanträge (AA). Nur in sieben Fällen handelte es sich um Regierungsvorlagen (RV). Allerdings waren die Gesetzesvorlagen in Ministerien entworfen worden und somit materiell Ergebnis der Regierungspolitik.

Die Corona-Krise wurde in der Nationalratssitzung am 27. Februar 2020 nach Regierungserklärungen der Bundesminister Anschober (Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) und Nehammer (Inneres) erstmals Thema parlamentarischen Beratung. Erste legislative Maßnahmen folgten zwei Wochen später in der Sitzung vom 15. März 2020. Die Beschlüsse vom 15. März (ein Initiativantrag und drei Ausschussanträge) über das neue COVID-19-Gesetz und gesetzliche Begleitmaßnahmen stellten Geschwindigkeitsrekorde auf. Einbringung im Parlament, Beschlussfassung im Nationalrat und Bundesrat, Gegenzeichnung durch den Bundespräsidenten und Kundmachung im Bundesgesetzblatt erfolgten innerhalb von zwei Tagen.

Abbildung 4: Anzahl der Gesetzesbeschlüsse im Nationalrat nach Typ der Gesetzesvorlage vor und nach Beginn der Corona-Krise (Ende Februar 2020 war sie erstmals Mal Debattenthema im Nationalrat, legislative Beschlüsse dazu gab es erst im März 2020). Auswertung der Gesetzesbeschlüsse im Nationalrats (www.parlament.gv.at) vom Beginn der Gesetzgebungsperiode am 23. Oktober 2019 bis Mitte Mai 2020.

In normalen Zeiten wird die Umgehung des vorparlamentarischen Begutachtungsverfahrens und die beschleunigte Durchführung von Gesetzgebungsverfahren von Oppositionsparteien sehr kritisch bewertet. Häufig verweist sie auf eine daraus resultierende geringere Qualität der Gesetzgebung. In Krisenzeiten ist schnelles Reagieren aber von besonderer Bedeutung. Initiativanträge können daher eher als geeignetes Mittel akzeptiert werden.

In den parlamentarischen Sitzungen seit Beginn der Corona-Krise hat das österreichische Parlament große Veränderungen des Status Quo beschlossen. Die Opposition im Parlament hat die COVID-19-Gesetze zunächst auch mitgetragen. Doch je mehr Gesetzesvorlagen zur Krise dem Parlament vorgelegt wurden, desto geringer wurde die Bereitschaft der Oppositionsparteien mit der Regierung bzw. den Regierungsfraktionen mitzugehen. Auch ihre Kritik an der Qualität der Krisengesetzgebung, etwa bezüglich Achtung von Grundrechten, wurde lauter (z.B „Opposition in der Rollenfindung“, Wiener Zeitung, 15.4.2020).

Abbildung 5: Zustimmung zu Gesetzesvorschlägen im Nationalrat vor und nach Beginn der Corona-Krise und mit und ohne direkten Bezug zur Corona-Krise (in Prozent der Gesetzesvorlagen). Auswertung der Gesetzesbeschlüsse im Nationalrats (www.parlament.gv.at) vom Beginn der Gesetzgebungsperiode am 23. Oktober 2019 bis Ende April 2020.

Abbildung 5 zeigt den Prozentanteil an den Gesetzesbeschlüssen, bei denen eine Parlamentsfraktion mit den Regierungsparteien mitgestimmt hat, unterschieden in die Beschlüsse vor Ausbruch der Krise – von Oktober 2019 bis Ende Februar 2020 (12 Gesetzesbeschlüsse) – sowie seit Beginn der Krise – in den Monaten März (9 Gesetzesbeschlüsse) und April 2020 (20 Gesetzesbeschlüsse).

Zu Beginn der neuen Gesetzgebungsperiode im Herbst 2019 war – wie das Balkendiagramm ganz links zeigt – die Zustimmungsbereitschaft der Opposition gegenüber der sich abzeichnenden, und ab Jänner 2020 amtierenden, Koalitionsregierung von ÖVP und Grünen sehr gering. SPÖ und FPÖ gaben weniger als der Hälfte, NEOS knapp mehr als der Hälfte der zwölf Gesetzesvorlagen ihre Zustimmung.

Im März 2020 gab es unter dem Eindruck der Corona-Krise einen „nationalen Schulterschluss“ oder „Burgfrieden“-Effekt im Parlament. Fast alle Gesetzesbeschlüsse – mit und ohne inhaltlichen Bezug zur Corona-Krise – fielen einstimmig aus. Bei den Gesetzesbeschlüssen im April später sehen wir eine völlig veränderte Lage. FPÖ und NEOS haben in mehr als der Hälfte der Fälle ihre Zustimmung zu den von den Regierungsparteien eingebrachten Gesetzesanträgen verweigert, die SPÖ ging etwas häufiger mit den Regierungsfraktionen mit. Nur 3 von 14 COVID-19-Gesetzen im April 2020 wurden vom Nationalrat einstimmig beschlossenen. Sehr zum Missfallen der Regierungsfraktionen verabschiedete eine Abstimmungskoalition von SPÖ und FPÖ mit ihrer Mehrheit im Bundesrat Einsprüche gegen vier vom Nationalrat beschlossene Covid19-Gesetzesvorlagen die ihre Gesetzwerdung verzögerten. Die Beharrungsbeschlüsse des Nationalrats dazu wurden am 13. Mai gefasst.

Fazit

Auf der Ebene der Wähler*innenschaft gibt es in unserer Momentaufnahme Anzeichen für einen „Rally around the flag“ Effekt. Es gibt keine klare Zweiteilung in die Anhänger*innenschaft der Regierungsparteien und der Oppositionsparteien. Rund ein Drittel der Wähler*innen der Oppositionsparteien sprach sich für eine zurückhaltende Oppositionspolitik aus und rund ein Viertel für mehr Freiheiten für die Regierung durch das Parlament. Die Wähler*innenschaft der ÖVP steht ziemlich deutlich hinter der Bundesregierung. Bei den Grün-Wähler*innen ist dagegen sind die Anteile jener, die klar Zurückhaltung von Seiten der Opposition verlangen, die Vorschläge der Opposition ausreichend berücksichtigt sehen, und der Bundesregierung eine „lange Leine“ zugestehen würden, deutlich kleiner als bei den ÖVP-Wähler*innen. Die grüne Tradition, dass es einer starken Opposition zur Regierung bedarf, ist auch nach ihrem Rollenwechsel in eine Regierungspartei und selbst in einer Krisensituation erkennbar.

Auf der Ebene der politischen Eliten herrschte am Höhepunkt der Corona-Krise im März 2020 der „Burgfrieden“. Im April 2020 war die Bereitschaft der Opposition die von der Regierung entworfenen Krisen-Maßnahmen mitzutragen, wieder deutlich zurückgegangen. Auch im Fall der Corona-Krise erweist sich, der „Burgfrieden“ zwischen Opposition und Regierung als ein vorübergehendes Phänomen.


Marcelo Jenny ist Professor an der Universität Innsbruck, Institut für Politikwissenschaft, im Fachbereich Politische Kommunikation und Wahlforschung.

Wolfgang C. Müller ist Professor für Democratic Governance an der Universität Wien, Institut für Staatswissenschaft und Leiter des Vienna Center for Electoral Research.