06.08.2021 - PDF
Die alternativen COVID-Realitäten des österreichischen TV-Publikums
- Rund zwei Drittel der Bevölkerung verfolgt regelmäßig TV-Magazine, Dokumentationen und Diskussionssendungen, um sich über die Corona-Krise zu informieren.
- Unter den ORF-Nutzer*innen ist im Vergleich zu ORF-Nichtnutzer*innen der Anteil an Corona-Verharmloser*innen, Verschwörungsanhänger*innen, Maßnahmenkritiker*innen und Impfskeptiker*innen signifikant kleiner.
- Bei Nutzer*innen von ServusTV zeigt sich ein umgekehrtes Bild: Im Vergleich zu ServusTV-Nichtnutzer*innen tendieren diese zu einem höheren Maß an Verharmlosung des Virus, Glaube an Verschwörungstheorien, Kritik an den Eindämmungsmaßnahmen und Impfskepsis.
- Signifikante Unterschiede zeigen sich außerdem bei Oe24TV-Nutzer*innen. Im Vergleich zu Nichtnutzer*innen entsprechender Formate des Senders zeigen sich erstere anfälliger für Verschwörungsmythen und kritischer gegenüber den Maßnahmen.
- Nutzer*innen der Formate von Puls4/Puls24, ATV/ATV2 und KroneTV unterscheiden sich nicht signifikant von Nichtnutzer*innen derselben.
Von Jakob-Moritz Eberl und Noëlle S. Lebernegg
Seit Beginn der Pandemie drehen sich die Inhalte vieler Magazine, Dokumentationen und Diskussionssendungen im österreichischen Fernsehen nur mehr um ein Thema: das Coronavirus und seine Auswirkungen. Das ist grundsätzlich auch gut so, denn die Pandemie sorgte innerhalb der Bevölkerung nicht nur für regelmäßige Verunsicherung, sondern damit einhergehend auch zu einem verstärkten Informations- und Unterhaltungsbedürfnis, das auch über solche TV-Formate gedeckt werden kann. Insbesondere der Sender ServusTV sorgte allerdings mit seiner Diskussionssendung “Corona-Quartett” und einiger umstrittener Gäste mit kontroversen Meinungen auch immer wieder für Aufregung. Der Sender habe während der Corona-Pandemie seine “Quoten-Nische” gefunden, so der Medienberater Peter Plaikner in einem Ö1-Interview vergangenen Dezember. Gemeint sei eine neu gefundene Zielgruppe: Coronavirus-Verharmloser*innen und Maßnahmen-Kritiker*innen. Der Senderchef wehrt sich selbstverständlich gegen solche Anschuldigungen.
Dass Medien und vor allem das Fernsehen unsere Wahrnehmung der Welt prägen können, erscheint unter Anbetracht der relativ ausgiebigen Nutzung diverser Medien in Zeiten der Krise jedoch durchaus plausibel. Auf der anderen Seite ist es durchaus denkbar, dass Menschen mit gewissen Einstellungen und Meinungen auf der Suche nach bestätigenden Ansichten zu entsprechenden Inhalten greifen.
In diesem Blog wollen wir uns nun daher den Zusammenhang zwischen dem Konsum der zahlreichen Magazine und Diskussionsformate der unterschiedlichen Fernsehsender und der Wahrnehmung der Corona-Pandemie ihrer Zuseher*innen ansehen. Wir verwenden dafür die Daten der dreiundzwanzigsten Welle unserer Panel-Umfrage.
TV-Magazine, Dokumentationen und Diskussionssendung führen durch die Pandemie
Zunächst ermitteln wir das Nutzungsverhalten der Österreicher*innen. Dabei untersuchen wir in welchem Ausmaß TV-Magazine, Dokumentationen oder Diskussionssendungen zur Corona-Krise der unterschiedlichen österreichischen TV-Sender konsumiert werden. Abbildung 1 zeigt, dass solche Formate von einem nicht unerheblichen Anteil der Bevölkerung konsumiert werden. Am beliebtesten sind dabei die Formate des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (ORF): 50% der Befragten geben an im letzten Monat mindestens einmal in der Woche eine solche Sendung gesehen zu haben. Deutlich abgeschlagen folgt ServusTV (33%), die Sender Puls4 und Puls24 (26%), die Sender ATV und ATV2 (24%), der Sender Oe24TV (20%) und KroneTV, mit nur 11%. Nur 37% der Befragten geben an keine einzige solche Sendung im letzten Monat verfolgt zu haben.
Wo sich “Schwurbler*innen” und Maßnahmen-Kritiker*innen wohlfühlen
In einem nächsten Schritt sehen wir uns an, inwiefern der Konsum der Sendungsformate mit einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Corona-Pandemie einhergeht. Ähnlich wie in einem vergangenen Blog unterscheiden wir dabei zwischen Personen, die solche Sendungen der jeweiligen Sender mindestens einmal in der Woche konsumieren (d. h. Nutzer*innen) und jenen, die das seltener oder gar nicht tun (d. h. Nichtnutzer*innen).
Da das Nutzungsverhalten während der Corona-Krise äußerst komplex ist und mit zahlreichen zusätzlichen Faktoren in Verbindung stehen kann, haben wir für die folgenden Abbildungen sogenannte multivariate Regressionsmodelle berechnet, bei denen neben der Mediennutzung auch individuelle Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung und Ideologie berücksichtigt werden.
In früheren Blogs haben wir festgestellt, dass die verharmlosende Vorstellung, das Coronavirus sei nicht gefährlicher als die Grippe, mit der Bereitschaft zur Verhaltensänderung in der Pandemie korreliert. In Abbildung 2 überprüfen wir daher den Zusammenhang zwischen dem Nutzungsverhalten und dem Anteil an “Verharmloser*innen” unter den Befragten (d. h. ihrer Ablehnung (= “Trifft eher nicht zu” und “Trifft gar nicht zu”) der Aussage: Das Coronavirus ist gefährlicher als eine normale Grippe). Nur beim ORF sowie bei ServusTV unterscheiden sich die Nutzer*innen statistisch signifikant von den Nichtnutzer*innen. Um genauer zu sein, liegt der Anteil an “Verharmloser*innen” beim Publikum der ORF-Sendungen bei 10%. Bei jenen, die solche Sendungen im ORF nicht konsumieren, liegt er allerdings fast doppelt so hoch (18%). Bei ServusTV zeigt sich das umgekehrte Bild. Unter den ServusTV-Nutzer*innen sind 21% der Meinung, dass das Coronavirus nicht gefährlicher sei als eine normale Grippe. Bei den Nichtnutzer*innen sind es nur 11%.
In Abbildung 3 überprüfen wir nun den Zusammenhang zwischen dem Nutzungsverhalten und dem Anteil an “Gates-Verschwörer*innen” unter den Befragten (d. h. ihrer Zustimmung zur bzw. Unsicherheit (= “Unsicher, ob richtig oder falsch”, “Eher sicher, dass richtig” und “Sehr sicher, dass richtig”) bei der Aussage: Bill Gates will die Menschheit zwangsimpfen, um damit viel Geld zu verdienen). Hier sehen wir signifikante Unterschiede beim ORF, ServusTV und Oe24TV. Es zeigt sich, dass unter ORF-Nutzer*innen seltener “Gates-Verschwörer*innen” zu finden sind (21%), als unter ORF-Nichtnutzer*innen (30%). Bei ServusTV ist das Verhältnis mit 31% zu 22% wiederum genau umgekehrt. So auch bei Oe24TV mit 33% zu 23%.
In Abbildung 4 überprüfen wir nun den Zusammenhang zwischen dem Nutzungsverhalten und der Einschätzung der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus der Befragten (d. h. ihrer Zustimmung (“Trifft voll und ganz zu” und “Trifft eher zu”) zur Aussage: Es war ein Fehler, all diese Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus zu erlassen). Signifikante Unterschiede zeigen sich auch hier für den ORF, ServusTV und Oe24TV. Unter den ORF-Nutzer*innen sind 20% der Meinung, dass die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ein Fehler waren. Bei den ORF-Nichtnutzer*innen steigt der Anteil auf 28%. Unter Nutzer*innen etwaiger Formate bei ServusTV oder Oe24TV zeigt sich wiederum ein umgekehrtes Muster: 34% der Nutzer*innen und 19% der Nichtnutzer*innen von ServusTV und 35% der Nutzer*innen sowie 21% der Nichtnutzer*innen von Oe24TV stehen der Maßnahmensetzung kritisch gegenüber.
Wo sich Impfskeptiker*innen wohlfühlen
Inwiefern es auch einen Zusammenhang zwischen der Nutzung unterschiedlicher TV-Formate und pandemischen Verhaltens gibt, erkunden wir nun in Abbildung 5. Konkret sehen wir uns den Zusammenhang zwischen dem Nutzungsverhalten und der Impfbereitschaft der Befragten (d. h. dem Anteil an Geimpften bzw. Impfwilligen) an.
Signifikante Unterschiede zeigen sich wieder bei ORF und ServusTV. ORF-Nutzer*innen zeigen eine deutlich höhere Bereitschaft sich impfen zu lassen (80%) als ORF-Nichtnutzer*innen (61%). Wieder zeigt sich bei ServusTV ein umgekehrtes Bild: Unter ServusTV-Nutzer*innen sind weniger Menschen (60%) bereit sich impfen zu lassen als bei den ServusTV-Nichtnutzer*innen (76%).
COVID-Realitäten: Henne oder Ei
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass jene Befragten, die TV-Magazine, Dokumentationen oder Diskussionssendungen des ORF verfolgt haben, seltener das Coronavirus verharmlosen, seltener an Verschwörungstheorien glauben, seltener die Corona-Maßnahmen als einen Fehler betrachten und eine höhere Impfbereitschaft zeigen, als jene, die solche Formate im ORF nicht verfolgen. Bei ServusTV und teilweise bei Oe24TV zeichnet sich das genaue Gegenteil ab. Zwischen den Nutzer*innen und Nichtnutzer*innen dieser Formate auf Puls4/Puls24, ATV/ATV2 und KroneTV zeigen sich keine statistisch signifikanten Unterschiede.
Nun könnte man sich aber die Frage nach der Henne und dem Ei stellen. Wurden manche Befragte skeptischer gegenüber dem Coronavirus, weil ihnen diese alternativen COVID-Realitäten in den unterschiedlichen Formaten der verschiedenen Sender vorgespielt wurden? Oder entschieden sich Skeptiker*innen selbst eher für Formate von bestimmten Sendern, weil sie ihre Ansichten dort eher vertreten sahen? Oder gab es wechselseitige Beeinflussungen? Auch wenn diese Fragen auf der Basis unserer Daten nicht beantwortet werden können, so sollten alle drei Szenarien den betroffenen Sendern zu denken geben.
Jedenfalls stehen wir in Österreich vor einem gesamtgesellschaftlichen Problem, wenn die Fragmentierung der medialen Öffentlichkeit so weit voranschreitet, dass sich manche Bevölkerungsgruppen nicht mehr auf grundlegende pandemische Fakten oder Wahrnehmungen einigen können. Im schlimmsten Fall kann eine solche Fragmentierung zu einer weitreichenden Polarisierung des öffentlichen Diskurses beitragen bzw. hat sie dies womöglich über die vergangenen Monate schon getan. Ob die “Quoten-Nische” der Coronavirus-Verharmlosenden und Maßnahmen-Kritiker*innen alle Mittel heiligt, müssen die verantwortlichen Sender wohl selbst mit sich klären. Im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und der gemeinsamen Bewältigung dieser Krise erscheint es jedoch durchaus wünschenswert, wenn sie diese Strategie noch einmal überdenken würden.
Jakob-Moritz Eberl ist seit April 2017 Projektmitarbeiter (Post-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und seit 2013 Mitglied der österreichischen Nationalen Wahlstudie (AUTNES, Media Side). Er ist außerdem assoziierter Wissenschafter im Vienna Center for Electoral Research (VieCER) und beschäftigt sich unter anderem mit Fragen zu Medienwirkung, Medienvertrauen und Wahlverhalten.
Noelle S. Lebernegg ist Universitätsassistentin (Prae-Doc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie assoziierte Wissenschafterin im Vienna Center For Electoral Research (VieCER). Sie beschäftigt sich mit den Auswirkungen politischer Kommunikation und Medien auf die öffentliche Meinung und Wahlverhalten
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