01.06.2021 - PDF

Aus der Krise erwachsenes soziales Kapital – eine Ressource für die Zukunft?

  • Der Anteil an Personen, die sich nachbarschaftlich engagieren, ist zwischen Mai und November (2020) nahezu gleich (50% vs. 47%) und im Vergleich zu Vorpandemiezeiten (30%) auf hohem Niveau geblieben.
  • Das Ausmaß des Solidaritätshandelns in Form von Nachbarschaftshilfe kann vorsichtig als ein Effekt der Pandemie gedeutet werden, wonach die Aufmerksamkeit auf unmittelbare Nachbarschaft gelenkt wurde.
  • Eine politische Implikation der Ergebnisse liegt darin, informelles Engagement in seiner Vielfalt wahrzunehmen und zu fördern, um ergänzend zu formeller Hilfe -und Unterstützung eine Basis der Solidarität im Umgang mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit zu schaffen.

Von Johanna Pfabigan, Paulina Wosko und Sabine Pleschberger

Formen der informellen Unterstützung, insbesondere Nachbarschaftshilfe für ältere und hochbetagte Menschen, wurden durch Maßnahmen im Zuge der COVID-19 Pandemie vor besondere Herausforderungen gestellt: Besuche in Privathaushalten oder aber auch gemeinsame Aktivitäten draußen wurden zeitweise stark eingeschränkt. Dies brachte vor allem ältere Personen in Einpersonenhaushalten in eine prekäre Lage. Denn für jene ohne Familie im Nahbereich stellen informelle außerfamiliäre Helfer:innen, wie Freund:innen, Bekannte oder Nachbar:innen eine zentrale Ressource für Unterstützung dar (Pleschberger & Wosko, 2015).

Die qualitative Längsschnittstudie „Older People Living Alone (OPLA)“ widmet sich diesem informellen außerfamiliären Engagement im Kontext von alleinlebenden älteren Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf (Pleschberger, Reitinger, Trukeschitz, & Wosko, 2019). Anlässlich der o.g. Herausforderungen der Pandemie soll, ergänzend zu den qualitativen Daten des OPLA-Projekts, über Daten des Austrian Corona Panel Projects (ACPP) ein quantitativer Eindruck zum Unterstützungspotential in der Nachbarschaft gewonnen werden.

In diesem Beitrag wird ausschließlich informelles Freiwilligenengagement in den Blick genommen.  Darunter werden private Unterstützungsleistungen verstanden, die im Gegensatz zum formellen Freiwilligenengagement, nicht im Rahmen von Organisationen oder Vereinen getätigt werden. In Anlehnung an vorangegangene Publikationen werden die Begriffe „informelles Freiwilligenengagement“ und „Nachbarschaftshilfe“ synonym verwendet (vgl. BMASGK, 2019; Ramos, Andrews, & Stamm, 2020).

Mit dem ersten Lockdown im März 2020 war ein enormes Engagement in der Zivilgesellschaft zu beobachten, vielfach auch dort, wo es zuvor keines gab: Im Mai 2020 gaben 50% der Teilnehmenden des ACCP an, seit Beginn der Pandemie im Rahmen von Nachbarschaftshilfe tätig gewesen zu sein, über 40% davon engagierten sich mehrmals pro Monat, bzw. sogar mehrmals pro Woche (Ramos, Andrews, & Stamm, 2020) (Wie häufig haben Sie seit Beginn der Corona-Krise eine der folgenden Tätigkeiten ausgeübt? a.) Freiwilligenarbeit für eine soziale Organisation b.) Nachbarschaftshilfe).

Ein Vergleich dieser Daten mit den Ergebnissen des Freiwilligenberichts 2019 belegte den Anstieg: 2019 waren es 30%, die im Rahmen von informellen Freiwilligenengagement tätig waren (ebd.).

Wie nachhaltig diese Engagements gestaltet sind, sollte über eine weitere Befragung zu Freiwilligenengagement im Rahmen des ACPP untersucht werden. So wurde in der 17. Welle (November 2020) erneut erhoben, ob und wie oft sich die Teilnehmenden seit Beginn der Coronapandemie freiwillig informell, bzw. formell engagiert hatten, wobei in diesem Beitrag auf die Daten zu informellem Engagement zurückgegriffen wird.

Wie Abbildung 1 zeigt, gaben etwa 47% der Teilnehmenden an, zumindest einmal seit Beginn der Corona-Krise im Bereich der Nachbarschaftshilfe tätig gewesen zu sein (Balken „Insgesamt“). Hinsichtlich der Häufigkeit gaben über 17% aller Befragten an, sich „mehrmals pro Monat oder öfter“ engagiert zu haben. Von Mai bis November 2020 nahm der Anteil der Personen, die informelle Freiwilligenarbeit geleistet haben, zwar tendenziell ab, jedoch statistisch nicht signifikant (p=0.566) und lag mit 47% weiterhin deutlich über dem Niveau von 2019.

Abbildung 1: Wie häufig haben Sie seit Beginn der Corona-Krise eine der folgenden Tätigkeiten ausgeübt? a.) Freiwilligenarbeit für eine soziale Organisation b.) Nachbarschaftshilfe (Daten: ACPP, Wellen: 9, 17; gewichtet)

Der Anstieg in der Kategorie „seltener“ eröffnet in Bezug auf Nachbarschaftshilfe interessante Perspektiven. Hierbei könnte es sich um ein unregelmäßiges Engagement handeln, das etwa bedarfsorientiert angeboten, bzw. abgerufen wird, z.B. Einkäufe, kleinere Reparaturen im Haushalt und Gartenarbeit. Vor dem Hintergrund der sich lockernden Bestimmungen, könnte es sich auch um Personen handeln, deren Bereitschaft zu helfen gegeben ist, jedoch der Bedarf hierfür weniger regelmäßig gegeben ist, als dies in der ersten Jahreshälfte 2020 der Fall war.

Diskussion und Fazit

Hinsichtlich der gelebten Solidarität, die sich in informellem Engagement ausdrückt, manifestiert sich ein beachtliches Ausmaß von sozialem Kapital, das die Covid-19 Pandemie zum Ausdruck gebracht hat.

Eine Untersuchung im Längsschnitt hat gezeigt, dass die wahrgenommene Solidarität in der Gesellschaft im Verlauf der Pandemie stark abgenommen hat (Kittel, 2020). Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch in Hinblick auf Ergebnisse der 19. Welle (Jänner 2021) des ACPPs, wonach sich Solidarität gegenüber einigen Gruppen (Aichholzer & Rohs, 2021), beispielsweise älteren Menschen oder Menschen in der Nachbarschaft, im Vergleich zu 2018 tendenziell verringert hat. In diesem Kontext ist es daher bemerkenswert, dass das Ausmaß des Solidaritätshandelns in Form von informellem Engagement, auf diesem hohen Niveau geblieben ist.

Dies kann vorsichtig als ein Effekt der Pandemie gedeutet werden, wonach die Aufmerksamkeit auf unmittelbare Nachbarschaft sowie möglichen Unterstützungsbedarf gelenkt wurde. Diese Art von Aufmerksamkeit ist eine wichtige Voraussetzung für „compassionate communities“ (Kellehear, 2013). Eine politische Implikation der vorgestellten Ergebnisse liegt darin, das aus der Krise entwachsene Engagement zu erhalten und zu fördern. Hinsichtlich der steigenden Zahl der Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf und gleichzeitigem Rückgang der Ressourcen in der familiären Pflege sind wohlfahrtspluralistische Modelle von enormer Bedeutung (Klie, 2017). Darin würden stärker als bisher ein Mix aus institutionellem und informellem, bzw. bezahltem und unbezahltem Handeln sowie eine neue Verantwortungsteilung zwischen Staat und Bürger:innen dem Bedarf an Pflege und Unterstützung Rechnung tragen (Evers & Olk, 1996).


Johanna Pfabigan ist Junior Health Expert an der Gesundheit Österreich GmbH und wissenschaftliche Mitarbeiterin der qualitativen Längsschnittstudie: „Older People Living Alone (OPLA)“.

Paulina Wosko ist Pflegewissenschaftlerin; Health Expert an der Gesundheit Österreich GmbH und Key Researcher der qualitativen Längsschnittstudie: „Older People Living Alone (OPLA)“.

Sabine Pleschberger ist Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin; Leiterin der Abteilung Gesundheitsberufe an der Gesundheit Österreich GmbH und Projektleitung der qualitativen Längsschnittstudie: „Older People Living Alone (OPLA)“.


Danksagung

Wir danken den Kooperationspartnerinnen der qualitativen Längsschnittstudie: „Older People Living Alone (OPLA)“, gefördert vom FWF (P 30607-G29), für wertvolle Anregungen: Prof.in Dr.in Elisabeth Reitinger, Institut für Pflegewissenschaft (Universität Wien) und Dr.in Birgit Trukeschitz, Forschungsinstitut für Altersökonomie (Wirtschaftsuniversität Wien).

Literatur

  • Aichholzer, J., & Rohs, P. (2021, 02.03.2021). Wie weit reicht die Solidarität in der Corona-Krise? Corona Blog.  Retrieved 25.03.2020 from viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog101/
  • BMASGK. (2019). 3. Bericht zum freiwilligen Engagement in Österreich. Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz.
  • Evers, A., & Olk, T. (1996). Von der pflegerischen Versorgung zu hilfreichen Arrangements. Strategien der Herstellung optimaler Beziehungen zwischen formellem und informellen Hilfesystem im Bereich der Pflege älterer Menschen. In A. Evers & T. Olk (Eds.), Wohlfahrtspluralismus (pp. 347-372). Opladen: Westdeutscher Verlag GmbH.
  • Kellehear, A. (2013). Compassionate communities: end-of-life care as everyone’s responsibility. QJM: An International Journal of Medicine, 106(12), 1071-1075. doi: 10.1093/qjmed/hct200
  • Kittel, B. (2020, 26.11.2020). Die Entsolidarisierung der Gesellschaft: Vom ersten in den zweiten Lockdown. Corona Blog.  Retrieved 06.05.2020 from viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/corona-dynamiken11/
  • Pleschberger, S., Reitinger, E., Trukeschitz, B., & Wosko, P. (2019). Older people living alone (OPLA) – non-kin-carers’ support towards the end of life: qualitative longitudinal study protocol. BMC Geriatrics, 19(1), 219. doi: 10.1186/s12877-019-1243-7
  • Pleschberger, S., & Wosko, P. (2015). Informelle außerfamiliäre Hilfe für alleinlebende Menschen im Alter und Versorgung am Lebensende. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 48(5), 457-464. doi: 10.1007/s00391-014-0817-4
  • Ramos, R., Andrews, M. R., & Stamm, T. (2020, 07.08.2020). Physisch, aber nicht sozial distanziert: Freiwilligenarbeit in Zeiten von COVID-19. Corona-Blog.  Retrieved 24.03.2020 from viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog72/