07.04.2020

20 % der Kinder in Österreich leben in beengten Wohnverhältnissen

  • Besonders betroffen von den Ausgangsbeschränkungen während COVID-19 sind Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben und/oder über keine private Freifläche, wie einen Balkon oder Garten verfügen.
  • Obwohl Österreich im Durchschnitt über eine gute Wohnraumversorgung verfügt, ist der Wohnraum ungleich verteilt: 6 % der Befragten wohnen in beengten Wohnverhältnissen.
  • Besonders von Wohnungsenge betroffen sind Kinder. Abhängig vom Alter der Kinder sind das zwischen 17 % und 24 %.

Von Johann Bacher

Wohnungsenge

Wenn sich zwei oder mehr Personen eine Wohnung mit weniger als 35 m2 (inklusive Küche, Bad, WC, Vorraum) teilen, oder wenn ein Paar mit zwei oder mehr Kindern in einer Wohnung mit maximal 70 m2 wohnt, dann spricht die Statistik Austria von beengten Wohnverhältnissen. Eine durchschnittliche 70 m2 Wohnung in Österreich hat drei Räume (ohne Küche, die unterschiedlich groß sein kann), also z.B. Wohnzimmer, Elternschlafzimmer und Kinderzimmer. Letzteres müssen sich oftmals zwei oder mehr Kinder teilen. Man kann sich gut vorstellen, dass die Wohnung zu eng wird, wenn etwa beide Elternteile im Home-Office arbeiten und ein Kind seine Schulaufgaben machen sollte und seine Geschwister spielen möchten. Gleiches gilt etwa für einen alleinerziehenden Elternteil, der mit zwei Kindern in einer 60 m2 Wohnung lebt.

Abbildung 1: Durchschnittliche Wohnfläche in m2 pro Person nach Haushaltsgröße (Quelle: Corona-Panel der Universität Wien, erste Welle, mit W1_WEIGHTD gewichtete Daten. Zur Unterstreichung der Qualität der Erhebungsdaten wurde eine Vergleichsrechnung mit dem Mikrozensus 2018 vorgenommen. Die Ergebnisse unterschieden sich nur geringfügig, was die Qualität der Paneldaten unterstreicht.)

Abhängig von der Haushaltsgröße stehen den Haushaltmitgliedern in Österreich Wohnflächen pro Person zwischen 70,2 m2 (Einpersonenhaushalte) und 25,7 m2 (fünf und mehr Personen im Haushalt) zur Verfügung. Im Durchschnitt ergibt sich damit für Österreich eine gute Wohnraumversorgung, wenngleich der Wohnraum ungleich verteilt ist: Auch in Österreich leben 6 % in beengten Wohnverhältnissen. Größere Haushalte sind dabei häufiger von Wohnungsenge betroffen als kleinere. Weniger als 1 % der Haushalte, in denen eine oder zwei Personen leben, sind von Wohnungsenge betroffen; in Haushalten mit drei bzw. vier Personen erhöht sich dieser Wert auf 7 % bzw. 8 %. Unter Haushalten mit fünf und mehr Personen sind 29 % betroffen: Das bedeutet, dass in drei von zehn Haushalten mit fünf und mehr Personen Wohnungsenge vorliegt. Insgesamt leben in 10 % der befragten Haushalte fünf oder mehr Personen, wobei in unseren Umfragedaten die Haushaltsgröße im Vergleich zum Mikrozensus 2018 etwas größer ist: Größere Haushalte nahmen häufiger an der Befragung teil. (Die Ursache für dieses Befragungsergebnis kann aber auch darin liegen, dass erwachsene Kinder, die an einem anderen Ort studieren, während der Corona-Krise in den elterlichen Haushalt zurückgekehrt sind und nun als Haushaltsmitglieder betrachtet werden, während sie im Mikrozensus nicht als solche geführt werden.)

Besonders betroffen von Wohnungsenge sind Kinder. Abhängig vom Alter der Kinder sind zwischen 17 % (Kinder ab 6 Jahren) und 24 % (Kinder zwischen 0 und 5 Jahren) betroffen, während die Betroffenheit bei Erwachsenen in den Befragungsdaten 10 % beträgt.

Tabelle 1: Betroffenheit von Wohnungsenge in Abhängigkeit vom Alter der Haushaltsmitglieder

Alter der Haushaltsmitglieder

im Panel erfasste Anzahl

davon leben in beengten Wohnverhältnissen

absolut

in %

0 bis 5 Jahre

241

57

23,7%

6 bis 14 Jahre

377

64

17,0%

0 bis 14 Jahre

618

121

19,6%

15 bis 17 Jahre

211

36

17,1%

0 bis 17 Jahre

829

157

18,9%

18 Jahre und älter

3366

270

8,0%

Gesamt

4195

427

10,2%

Befragte

1541

93

6,0%

Quelle: Corona-Panel der Universität Wien, erste Welle, mit W1_WEIGHTD gewichtete Daten.

Weiterführende Analysen zeigen, dass in Wien mehr Haushalte von Wohnungsenge betroffen sind als in den anderen Teilen Österreichs. Das ist kein Wien-spezifisches Phänomen, sondern mit den spezifischen Wohnbedingungen in Großstädten (größere Dichte, höhere Boden- und Mietpreise, Zuwanderung usw.) zu erklären. Je größer die Gemeinde, desto mehr Haushalte sind von Wohnungsenge betroffen.

Ein möglicher weiterer Grund für die starke Betroffenheit von großen Haushalten könnte die Dominanz des Ideals der Zwei-Kind-Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern sein, das den Wohnbau seit der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart prägt. Dies bedeutet, dass es wenige Wohnungen gibt, die größeren Familien oder anderen Wohnmodellen mit mehreren Personen genug Platz bieten. Da der Wohnbau „träge“ ist, das heißt Planung und Errichtung Zeit in Anspruch nehmen, wurden neuen Wohnbedarfen, die durch Migration (größere Familien) und Pluralisierung der Lebensformen (Stichwort Patchwork-Familien mit vorübergehend mehr als zwei Kindern) entstanden sind, noch zu wenig Beachtung geschenkt.

Beengte Wohnverhältnisse gehen oft mit anderen Benachteiligungen einher. Sie zu ändern braucht Zeit. Was jedoch auch schon während der Krise möglich ist, ist die besondere Unterstützung von Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben. Diese könnte darin bestehen, dass z.B. „Arbeitsplätze“ in Schulen oder Stadtteilzentren angeboten werden, die den Sicherheitsvorgaben genügen, dass Anreize geschaffen werden, die Wohnumgebung zu erkunden, und/oder dass durch frühe Interventionen Konflikte vermieden werden.


Johann Bacher ist Professor für Soziologie und empirische Sozialforschung am Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität Linz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Methoden der empirischen Sozialforschung, soziale Ungleichheiten und die Soziologie des Abweichenden Verhaltens.


Methodische Anmerkungen

Dass die Betroffenheit der Erwachsenen bei 10 % liegt und jene der Befragten nur bei 6 % erklärt sich durch folgenden Sachverhalt: Jeder der 93 erwachsenen Befragten, der beengt wohnt, lebt mit 1,9 weiteren Erwachsenen zusammen. Die Zahl der von Wohnungsenge betroffenen Erwachsenen ist damit 93 + 1,9*93 = 269,7 = 270. Die 1541 Befragten leben insgesamt mit 1,184 Erwachsenen zusammen, also im Durchschnitt mit deutlich weniger Erwachsenen als in beengten Wohnverhältnissen. Das ergibt eine Gesamtzahl von 3366 Erwachsenen und damit eine Betroffenheit von 10,2% (=270/3366). Es ist also wichtig zwischen Haushalts- und Personenebene zu unterscheiden. Leider wird diese Differenzierung oft übersehen, sodass Zahlen falsch interpretiert werden.