31.03.2021 - ­PDF

Dynamik der parlamentarischen Opposition in der Corona-Krise

Von Marcelo Jenny und Wolfgang C. Müller

Die klassischen Funktionen parlamentarischer Opposition in der Demokratie sind die Kontrolle der Regierungspolitik, das Aufzeigen von alternativen Handlungsoptionen und die Präsentation von Politikern, die diese Handlungsentwürfe in zukünftigen Regierungsämtern umsetzen könnten. In Coronablog 38 haben wir gezeigt, dass am ersten Höhepunkt der Krise im April 2020 die Bürger*innen in hohem Ausmaß die Regierungspolitik unterstützten („Rally around the flag“ Effekt) und von der Opposition eine „Burgfriedenspolitik“ erwarteten, wobei sich auch keine eindeutige Trennung in Anhänger der Regierungs- und der Oppositionsparteien zeigte. Tatsächlich unterstützten die Oppositionsparteien die Regierungspolitik zunächst vollständig und beim zweiten Maßnahmenpaket überwiegend. In diesem Blog schreiben wir die Entwicklungen der öffentlichen Meinung und der parlamentarischen Auseinandersetzung der Opposition mit der Regierungspolitik bis Januar 2021 fort.

Erwartungen der Bevölkerung an die Opposition

Abbildung 1 zeigt, dass sich die Erwartungen, die Bürger*innen an die Opposition richten, im Verlauf der Krise deutlich verändert haben – in Richtung der Ausübung der „klassischen“ Oppositionsrolle statt der Praktizierung einer „Burgfriedenspolitik“. Das gilt vor allem für die Wähler*innen der Oppositionsparteien, in geringerem Ausmaß aber auch für die der Regierungsparteien. Dennoch gibt es noch immer viele Wähler*innen der Oppositionsparteien, die sich in der Krise eine zurückhaltende Oppositionspolitik wünschen.

Abbildung 1: Kritik an der Regierung aus Sicht der Parteiwählerschaft (NRW 2019), Quelle: Corona-Panel-Umfragen, Welle 3 (10.-16. April), Welle 13 (10.-15. Juli) und Welle 18 (11.-18. Dezember 2020)

Das Verhalten der Opposition im Parlament

Welche Strategien hat die parlamentarische Opposition gewählt? Abbildung 2 zeigt das Ausmaß der Zustimmung der drei Oppositionsparteien zu den Gesetzesvorlagen der Regierungsparteien (Regierungsvorlagen und gemeinsame Initiativanträge von ÖVP und Grünen) seit Beginn der 27. Gesetzgebungsperiode des Nationalrats. Bei jeder einzelnen Abstimmung können (geschlossen agierende) Parteien nur zustimmen oder ablehnen. Um ein kontinuierliches Maß der Zustimmung der Oppositionsparteien im Zeitverlauf zu präsentieren, zeigt Abbildung 2 die 191 Abstimmungen als gleitenden Mittelwert, wobei jeder Punkt auf der Kurve die jeweils letzten 10 Abstimmungen darstellt. Die x-Achse bemisst sich an Abstimmungen, zeigt aber auch den Zeitverlauf, wobei sich die Abstimmungen natürlich nicht gleichmäßig über die Zeit verteilen.

Insgesamt wurden 42 % der Gesetze (82 Gesetze) mit der Zustimmung aller Parteien beschlossen und nur 14 % (27 Gesetze) nur mit den Stimmen der Regierungsparteien. Von den Oppositionsparteien zeigt die SPÖ die größte Bereitschaft zur Zustimmung (71%), während NEOS (65%) und FPÖ (66%) zwar kritischer gegenüber den Vorlagen der Regierungsparteien waren als am Beginn der Krise, aber immer noch weit mehr als die Hälfte aller Vorlagen unterstützen.

Abbildung 2: Zustimmung der Oppositionsparteien zu Gesetzesvorlagen der Koalitionsregierung, Quelle: Gesetzesbeschlüsse im Nationalrat (Nov. 2019–Jänner 2021, Beschlussnummern 1–216), Website des Österreichischen Parlaments (https://www.parlament.gv.at).

Unterscheidet man zwischen Gesetzen mit Covid19-Bezug (99 Gesetze) und solchen ohne (92 Gesetze), dann zeigt sich, dass es bei den Gesetzen ohne Covid19-Bezug wenig Unterschied in den Zustimmungsraten der Oppositionsparteien gibt (die SPÖ unterstütze 60 der 99 Vorlagen, die FPÖ 61 und NEOS 63) während sich bei den Covid19-Maßnahmengesetzen ein recht deutlicher Unterschied zwischen der SPÖ (75 Gesetze unterstützt) und den beiden anderen Parteien zeigt (NEOS 61, FPÖ 60).

Anders als die meisten anderen Regierungen der Zweiten Republik verfügt die Koalition aus ÖVP und Grünen über keine Mehrheit im Bundesrat. Gemeinsam können die Oppositionsparteien (31 Sitze) die Regierungsparteien (30 Sitze) überstimmen sofern sie gemeinsam vorgehen. Konstellationen mit Oppositionsmehrheit im Bundesrat waren in der Vergangenheit nicht nur selten, sondern auch politisch wenig bedeutend, denn die Regierungsparteien konnten (abgesehen von wenigen Fällen, zumeist am Ende einer Regierungsperiode) ihre Vorhaben immer durch Beharrungsbeschluss im Nationalrat durchsetzen. Allerdings kosten solche Prozesse Zeit und die Mehrheit im Bundesrat kann innerhalb enger Grenzen bestimmen, wie viel Zeit. Sie kann entweder ein Gesetz rasch annehmen oder ablehnen (und so den Weg zum Beharrungsbeschluss im Nationalrat frei machen) oder aber die Frist zur Behandlung ohne Beschlussfassung verstreichen lassen (womit das Gesetz zwar verzögert aber angenommen ist) oder das Gesetz gegen Ende der Frist ablehnen und so einen neuen Prozess im Nationalrat erforderlich machen. Nun ist aber Zeit bei der Bekämpfung von Pandemien ein besonders kritischer Faktor, eine bedeutende Verzögerung kann zeitbezogene Maßnahmen obsolet machen. Das Verhalten der Opposition im Bundesrat ist daher in hohem Maße relevant.

Im Untersuchungszeitraum wurden 181 Gesetzesbeschlüsse des Nationalrats im Bundesrat behandelt, 85 davon mit Covid19-Bezug. Bei 165 Gesetzesvorlagen erfolgte ein rascher Beschluss des Bundesrats, keinen Einspruch zu erheben. In 6 Fällen erfolgte ein Einspruch des Bundesrates, dem ein Beharrungsbeschluss des Nationalrats folgte. In 12 weiteren Fällen lehnte der Bundesrat eine Gesetzesvorlage im Ausschuss ab. Somit kam es zu keiner Behandlung der Gesetzesvorlage im Plenum des Bundesrats und zum Ablauf der acht Wochen Einspruchsfrist. Das bewirkte eine größere Verzögerung des Gesetzgebungsprozesses, als es ein rascher Einspruch im Bundesrat getan hätte.

Diesen Fällen „harter“ Oppositionspolitik stehen aber auch einzelne Fälle gegenüber, bei denen einzelne Oppositionsparteien ein Gesetz im Nationalrat zwar ablehnten, um ihre Kritik zu unterstreichen, dann aber im Bundesrat zustimmten, um nicht auch die positiven Teilaspekte des Gesetzes zu verhindern oder zu verzögern. In diesem Sinne half die SPÖ der Regierung zweimal, die FPÖ einmal über die Klippe des Bundesrats. Uneinigkeit der Opposition oder konstruktives Verhalten einzelner Oppositionsparteien haben also die Hürde des Bundesrats bei der Pandemiebekämpfung durch die Regierung klein gehalten. Diese „differenzierte“ Strategie der Oppositionsparteien ist wohl im Zusammenhang mit der großen Meinungsbandbreite selbst unter den Parteiwähle*innen zu sehen (siehe oben).

Schluss

In den ersten neun Monaten der Covid19-Krise ist der anfängliche „Rally around the Flag“ Effekt stark zurückgegangen. Die Bürger*innen und selbst die Wähler*innen der Oppositionsparteien haben aber noch immer recht widersprüchliche Meinungen zur Rolle der Oppositionsparteien in der Krise (Burgfrieden vs. Kontrolle und Kritik). Parallel dazu hat sich das tatsächliche Verhalten der Oppositionsparteien verändert. Aus der anfänglichen Unterstützung der Regierungslinie (mit dem einen oder anderen „Aber“ in der Debatte) ist eine Mischung aus Konfrontation und Unterstützung durch die Opposition bei Abstimmungen geworden. Die Gesetzgebungsperiode ist daher zunehmend zu einer geworden, die den etablierten Standards der letzten Jahrzehnte in den Regierung–Opposition-Beziehungen entspricht und auch die Unterschiede zwischen Covid-19 bezogenen Materien und anderen Materien sind gering. Zu untersuchen bleibt eine der klassischen Fragen politischer Repräsentation: wie sehr die öffentliche Meinung die Dynamik des politischen Wettbewerbs beeinflusst hat und, umgekehrt, wie sehr die Positionierung und Argumentation der politischen Parteien die Dynamik der öffentlichen Meinung beeinflusst hat.


Marcelo Jenny ist Professor an der Universität Innsbruck, Institut für Politikwissenschaft, im Fachbereich Politische Kommunikation und Wahlforschung.

Wolfgang C. Müller ist Professor für Democratic Governance an der Universität Wien, Institut für Staatswissenschaft und Leiter des Vienna Center for Electoral Research.


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