07.07.2021 - PDF

Soziale Gerechtigkeit und Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung. Ein normativer Unterschied

  • Die Österreicher*innen finden, wer mehr leistet, sollte auch mehr Einkommen und Vermögen erhalten.
  • Geht es aber um Gesundheitsversorgung, so möchten die Österreicher*innen gleichen Zugang für alle.
  • Die Gerechtigkeitseinstellungen in sozialer Verteilung und in Gesundheitsversorgung unterscheiden sich.

Von Thomas Resch

Dieser Blogbeitrag beleuchtet die Gerechtigkeitseinstellungen bezogen auf soziale Verteilung im Allgemeinen und Gesundheitsversorgung im Besonderen. Die Einstellungen werden über diese Bereiche hinweg miteinander verglichen. Es zeigt sich, dass die Teilnehmer*innen des Austrian Corona Panels (ACPP) Gerechtigkeit im Bereich der Einkommens- und Vermögensverteilung anders bewerten als Gerechtigkeit im Zugang zur Gesundheitsversorgung.

Soziale Gerechtigkeit

Soziale Gerechtigkeit beschäftigt sich mit der Frage der Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft. In der Soziologie werden häufig vier Gerechtigkeitsprinzipien unterschieden. Diese sind das Leistungsprinzip, das Anrechtsprinzip, das Bedarfsprinzip und das Gleichheitsprinzip. Ersteres fordert die Verteilung von Ressourcen nach Leistung: also, dass Menschen, die mehr leisten, auch mehr bekommen sollen. Zweiteres will eine Verteilung, bei der  Menschen aufgrund einer besonderen Stellung in der Gesellschaft mehr Ressourcen zustehen als anderen. Das dritte Prinzip gesteht den Bedürftigen und Armutsbetroffenen Ressourcen unabhängig von ihrer Leistung zu. Nach dem Gleichheitsprinzip sollen schließlich alle gleich viele Ressourcen erhalten, unabhängig von ihren Leistungen, Bedürfnissen oder ihrer sozialen Stellung.

Im April 2021 wurden im ACPP diese sozialen Gerechtigkeitsprinzipien mit den folgenden vier Aussagen abgefragt, wobei man diesen auf einer mehrstelligen Skala zustimmen oder diese ablehnen konnte. 

  • „Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn Einkommen und Vermögen gleichmäßig auf alle Menschen verteilt sind” (Gleichheit) 
  • „Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn hart arbeitende Menschen mehr verdienen als andere” (Leistung) 
  • „Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn sie sich um Arme und Bedürftige kümmert, unabhängig davon, was diese der Gesellschaft zurückgeben” (Bedarf) 
  • „Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn Menschen aus Familien mit hoher gesellschaftlicher Stellung Privilegien in ihrem Leben genießen können” (Anrecht).

Die rund 1.500 Teilnehmer*innen befürworteten am stärksten das Leistungsprinzip gefolgt vom Bedarfsprinzip als Maßstab für die Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft an (Abbildung 1). Dies deckt sich mit früheren Ergebnissen aus dem ACPP und aus dem European Social Survey (ESS).

Abbildung 1: Einstellungen zu vier Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit. Quelle: ACPP Welle 22, N = ca. 1.500 (gewichtet).

Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung

Im April 2021 wurde weiters im ACPP gefragt: „Für wie fair oder unfair würden Sie es halten, wenn folgende Gruppen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung vorrangig behandelt werden?”. Die ersten vier Antworten richten sich dabei nach den vier Prinzipien aus der sozialen Gerechtigkeit: „Menschen, die mehr verdienen und somit höhere Beiträge zahlen” (Leistung), „Menschen, die in der Gesellschaft eine hohe Stellung innehaben” (Anrecht), „Menschen mit geringem Einkommen” (Bedarf), „Alle Menschen bekommen gleichen Zugang” (Gleichheit). 

Die Ergebnisse der Gerechtigkeitseinstellungen bei der Gesundheitsversorgung (Abbildung 2) unterscheiden sich markant von jenen Einstellungen, die sich auf allgemeine soziale Gerechtigkeit beziehen (Abbildung 1). 

Nur 15 Prozent der ACPP-Teilnehmer*innen sahen eine Priorisierung in der Gesundheitsversorgung aufgrund von Leistung als “fair” oder “eher fair” an. Das Anrechtsprinzip wurde noch stärker abgelehnt. Bedürftige Menschen mit geringem Einkommen zu bevorzugen, wurde nur durch 19 Prozent (eher) befürwortet. Hingegen fanden 75 Prozent der Respondent*innen, dass alle Menschen gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung bekommen sollten. 

Abbildung 2: Einstellungen zu vier Prinzipien der Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung. Quelle: ACPP Welle 22, N = ca. 1.500 (gewichtet).

Ein Vergleich

Korreliert man nun die Gerechtigkeitseinstellungen im sozialen Bereich mit jenen in der Gesundheitsversorgung, so zeigt sich, dass es zwischen den beiden Arten von Einstellungen wenige Übereinstimmungen gibt (Tabelle 1). Das bedeutet, dass etwa Menschen, die generell dem Leistungsprinzip anhängen, dies nicht automatisch auch im Bereich der Gesundheitspriorisierung tun. Lediglich das Anspruchsprinzip weist eine etwas höhere positive Korrelation auf (R=0,426). 

Dies zeugt von einem normativen Unterschied in der Bewertung von Gerechtigkeit im Sozialen im Vergleich zur Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung. Dieser normative Unterschied liegt deshalb vor, weil die Erwartungen an die Gesundheitsversorgung fundamental anders zu sein scheinen als die Erwartungen im Bereich der sozialen Verteilung von Ressourcen. Gesundheit wird in der Gesellschaft als besonderes Gut angesehen, das sich nicht mit rein materiellen Maßstäben erfassen lässt. Die Österreicher*innen scheinen Gesundheit also normativ anders zu bewerten als soziale Verteilungsfragen im Allgemeinen. Einen ähnlichen Befund liefert etwa auch eine Untersuchung mit deutschen Umfragedaten.

 

 

Leistung (gesundh.)

Anrecht (gesundh.)

Bedarf (gesundh.)

Gleichheit (gesundh.)

Leistung (sozial)

0,090

-0,062

-0,036

0,038

 

Anrecht (sozial)

0,325

0,426

0,197

-0,243

 

Bedarf (sozial)

-0,086

-0,161

0,057

0,236

 

Gleichheit (sozial)

-0,065

 

0,042

 

0,168

 

0,207

 

Tabelle 1: Korrelationen der Gerechtigkeitseinstellungen im Sozialen und in Gesundheitsversorgung. Quelle: ACPP Welle 22, N = ca. 1.500 (gewichtet).

Fazit

Die Korrelationen zwischen den vier Gerechtigkeitsprinzipien (Leistung, Anrecht, Bedarf und Gleichheit) sind mit Ausnahme des Anrechtsprinzips gering. Während bei sozialer Gerechtigkeit Leistung und Bedarf am meisten Zustimmung erfuhren, stand bei Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung das Gleichheitsprinzip klar im Vordergrund. 

Geht es um Einkommens- und Vermögensverteilung, also primär um materielle Werte, dann sollten vor allem Leistungsträger*innen und bedürftige Menschen belohnt bzw. entschädigt werden. Geht es aber um die Behandlung in der öffentlichen Gesundheitsversorgung, so bewerteten die ACPP-Teilnehmer*innen Gleichheit, also gleichen Zugang für alle, eindeutig als oberstes Gerechtigkeitsprinzip.

 


Thomas Resch ist als Doktorand am Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gerechtigkeitsforschung, Verteilungspräferenzen, Einstellungen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und international vergleichender Analyse von Wohlfahrtsstaaten.